Oder: Die Matriximmanenz der
begrenzten Auswahl
1. September 2013: Im Grunde ist es ja
eine amerikanische Marotte, kurz vor der Wahl so ein „TV-Duell“ der
zwei großen Kandidaten zu veranstalten. Die Situation ist allzu sehr
ritualisiert, die Kandidaten beginnen angespannt und enden mit einer
Art aufgesetzten Zuversicht, und genau wie ich nicht
Matriximmanenz sagen sollte, ohne das Risiko einzukalkulieren,
dass meine etwaigen, wenn überhaupt vorhandenen Leser wegdösen, bin
ich heute bei diesem Merkel-Steinbrück-„Duell“ schlicht und einfach
wegen dieser Matriximmanenz einige Male eingenickt, obwohl
ich doch so pflichtbewusst angefangen hatte, ihnen zuzuhören.
Herbert Marcuse (1898-1979), ein in
Studentenkreisen der Mitt-60er bis Anfang der 70er Jahre sehr
beliebter Soziologe, machte die sogenannte Systemimmanenz zum
gängigen Begriff. Er wollte damit sagen, dass in einem bestehenden
Gesellschaftssystem eigentlich nur Phänomene auftreten können, die
in den Rahmen des Systems hineinpassen bzw. ihm innewohnen. Falls
eine gesellschaftliche Erscheinung diesen Rahmen zu sprengen
scheint, hätte entweder die Duldung dieser Erscheinung eine dem
System dienliche Funktion („Funktion“ war damals auch so ein
ekelhaftes Allerweltswort), oder aber die Erscheinung würde ziemlich
bald ins System integriert, wie man zum Beispiel die freizügigen,
originellen Merkmale der Hippie-Bewegung sehr bald mit allerlei
Modeartikeln kommerzialisierte. So schreibt Rolf-Ulrich Kunze in
Symbiosen, Rituale, Routinen. Technik als Identitätsbestandteil
auf Seite 161: „Der unbeschränkte Konsumismus
führt nicht in die totale Selbstbestimmung, sondern in neue Zwänge
und Pfadabhängigkeiten. Deren zeitgenössische Kritik durch Herbert
Marcuse ..., vor allem in seiner Schrift Der eindimensionale
Mensch aus dem Jahr 1967, hat an Aktualität seither eher
gewonnen als verloren. Der Philosoph und Stichwortgeber der ‚68er‘
brandmarkte in den 1960er Jahren die technologiegestützte
Systemimmanenz des konsumabhängigen Lifestyles in der Sprache
bürgerrechtlicher Anklage als tendenziell totalitär: ‚Das totalitäre
Ganze technologischer Rationalität ist die letzte Umbildung der Idee
der Vernunft.‘“ – Sprachlich ist diese Form der Kritik auf
jeden Fall hoffnungslos überladen.
Ja, ja, man sieht, dass die menschliche
Intelligenz sich im Gedankendschungel zu kringeln und sich in ihren
eigenen spiegelfechterischen Angebereien zu verfangen beginnt, bis
sie schmerzhaft auf die Nase fällt. Aus ungeduldig revolutionärer
Sicht kann diese Denkweise eine Art fickerige Schizophrenie
hervorrufen, weil man bald das Gefühl bekommt, es gäbe überhaupt
nichts, womit man aus dem „System“ ausbrechen könne. Das ist ein
sehr spaßfeindlicher Gedanke und spricht im Übrigen dem Geist jede
Wahlfreiheit ab. Folglich begannen viele Leute Drogen zu nehmen, ein
trauriger und meist schädlicher, oft gar tödlicher Ausbruchsversuch
aus einer hoffnungslos „systemimmanenten“ Welt. Auch
Sekten-Traumwelten boten sich als Fluchtweg aus dieser trostlosen
materialistischen Systemimmanenz an, führten aber oft unversehens
in eine weitaus konkretere, krassere Version von echter mentaler
Gefangenschaft. Wahr ist freilich, dass die scheinbare Allgegenwart
eines Systems jederzeit sowohl durch spielerische Unbefangenheit als
auch durch spirituelle Selbstvergeistigung durchbrochen werden kann.
Niemand muss sich kontinuierlich vom bösen, bösen System ins
Milchkännchen kacken lassen. Aber die faschistische Anfälligkeit
selbst wunderbarster Seelenkameraden erfordert ständige Wachsamkeit.
Heute wird das Gefühl der alles
durchdringenden Macht eines schwer durchschaubaren, nahezu
unüberwindlichen herrschenden Systems durch den Begriff der
Matrix zum Ausdruck gebracht, daher meine Anspielung auf
Matriximmanenz. Man kann nicht erkennen, dass irgendeiner der
angebotenen Politiker es schafft, effektiv die Schablone zu
durchbrechen, den Schleier zu lüften und den oft versprochenen
Klartext zu reden. Das geht ja auch kaum, nicht wenn hier jemand
ernsthaft an die Macht will. Wir sehen die schöne Sahra Wagenknecht
in rechtschaffenem Zorn erglühen, wenn ein abgebrühter Realpolitiker
die gigantische Rolle Deutschlands als Rüstungsexporteur verteidigt.
Aber sie kommt eben doch nicht dagegen an, obwohl sie als Idealistin
vollkommen recht hat. In der Praxis siegen auf diesem Sklavenplaneten
die Rüstungsproduzenten im Einvernehmen mit den angeblich
herrschenden Politikern. Da geben die realen Machtverhältnisse und
die wirtschaftlichen Druckmittel den Ton an. Keiner der Journalisten
fragt das Merkel-Steinbrück-Duo nach solchen Sachverhalten, oder war
ich da gerade eingenickt?
Natürlich sind auch Sahra & Co. nicht wirklich
wählbar, denn über die Provokation hinaus können sie keinen
gangbaren Ausweg aus dem Dilemma anbieten. Falsch ist an
allen gegenwärtigen politischen Systemen die Belohnung von
Nichtproduktion und die Bestrafung von Produktion. Mit anderen
Worten die Abzocke durch Banken und Spekulanten genauso wie die
Abzocke durch sozialistisches Absahnen, Mega-Besteuerung und
Umverteilen ohne Einforderung einer Gegenleistung. Kurz gesagt die
Zinsknechtschaft jeder Couleur, egal ob von „links“ oder von
„rechts“, aber auch die Situation der Unterbezahlung ehrlich
arbeitender Menschen in verschiedenen Formen von Zeitarbeit,
ausufernden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen usw. Jedoch würden die
Lösungsvorschläge der Linken, 10 Euro Mindestlohn und die Einführung
eines bedingungslosen Grundeinkommens (oh, wie schön klingt
das nach den Prinzipien einer grundgütigen Mutter- und
Liebesgöttin), die Zinsknechtschaft verschärfen, unter der die
Völker und die Staaten stöhnen, denn von wem würde die grundgütige
Sahra in ihrer bedingungslosen Liebe den ganzen Zaster hernehmen?
Zuerst könnte man die Reichen kleinkriegen, aber das hält nicht
lange vor; dann müsste man weitere hunderte Milliarden fürs
Sozialsystem borgen, und die Bankiers geben das schamlos in den
Computer getippte Geld gerne her und verlangen dafür ewige Knechtschaft,
bis jeder zweite Steuertaler in den Rachen der Zins-Eintreiber geworfen
werden muss und die Inflation unaufhaltsam davongaloppiert. Die
Absahner in den Reihen bankrott gehender EU-Mitgliedsländer sind
auch nichts anderes als Absahner und somit Verschlimmerer der
allgemeinen Zinsknechtschaft, ganz egal ob wir Deutschen uns immer
noch schuldig oder moralisch verpflichtet fühlen müssen. So darf
natürlich im Fernsehen niemand daherreden, denn das widerspräche dem
Kodex, der den Medien von finanzkräftigen Machthabern im In- und
Ausland aufdiktiert wird. Ich empfehle auch keinen Faschismus, denn
wie wir schon gemerkt haben dürften, ist Hitler nicht die Antwort.
Aber Ehre und Anstand wären ganz schön, und normale Tugenden wie
Arbeiten, Sparen und Häuslebauen. |