Das Dasein an sich scheint keinen
augenfälligen Sinn zu haben. Der Mensch wird geboren, wächst, lernt, arbeitet,
isst, schläft, pflanzt sich fort, zieht die Nachkommen groß, setzt sich zur
Ruhe und stirbt. Für wen oder was? Für die Kinder, bekommt man von
desillusionierten Erwachsenen oft zu hören. Damit es ihnen gut geht. Was werden
die Kinder machen? Sie wachsen heran, lernen, arbeiten, essen, schlafen,
pflanzen sich fort, ziehen die Enkel groß, setzen sich zur Ruhe und sterben. Für
wen oder was? Für die Enkel? Was werden die Enkel machen? Es dreht sich im
Kreis. Man kann auch sagen: Für die Liebe, aber wenn man nur die zwischen Mann
und Frau meint, dann ist von einem seelischen Phänomen die Rede, dem oftmals
leider keine lange Dauer beschieden ist; es kommen auch wieder nur Kinder dabei
heraus, womit wir beim alten Lied sind.
Trotzdem geben sich manche Menschen mit
dieser Erklärung bereits zufrieden. Anderen reicht sie nicht aus. Manchen ist
der Fortbestand durch Generationen schon zu viel Mühe. Sie leben allein um
ihrer selbst, um ihres persönlichen Genusses oder ihrer materiellen
Selbstverwirklichung willen. Nachdem dieser Rückzug vollzogen ist, schließt
sich der Kreis noch sehr viel schneller. Das Individuum fällt im Handumdrehen der
Vergessenheit anheim.
Sowohl das Individuum als auch die Familie
empfinden schmerzhaft ihre eigene Verwundbarkeit. Familienangehörige erkundigen
sich ständig nach der Gesundheit, aber am Ende geht die Gesundheit eines jeden
in die Brüche – spätestens, wenn er stirbt. Im unglücklichen Falle, der immer
mehr zur Regel wird, treffen sich auch Familien nur noch bei Beerdigungen,
demonstrativ am Rande des Grabes, des für alle gültigen Untergangs.
Von allein hat das Leben keinen Sinn, und
als bloßer Fortbestand schon gar nicht. Man muss ihm einen Sinn geben. Eine ganze Philosophie, der
Existenzialismus, wurde an dieser Tatsache aufgehängt. Und es ist in der Tat
eine Fähigkeit – eine der elementarsten Fähigkeiten überhaupt. Angesichts der
offenkundigen Vergänglichkeit des Einzelnen und der Familie bleibt bei vielen,
die auf bloßen Fortbestand fixiert sind, ein Vakuum an Sinn und Zweck. Versagt
der Einzelne in der Sinngebung, steht ihm meist ein reiches Angebot an
persönlichen oder organisierten Sinngebern zur Verfügung – eine offenbar
notwendige, aber auch lukrative Sparte.
Kommt nun jemand mit einem überzeugenden,
weitgespannten, gewaltigen neuen Ziel daher, kann er bei ausreichender
Fähigkeit in der Kommunikation und mit Gespür für menschliche Schwächen viele
Leute mitreißen, die heilfroh sind, endlich einen Fortbestand gefunden zu
haben, der vermeintlich die Jahrhunderte und Jahrtausende überdauern wird. Je
nach ethischem Wert und Inhalt einer solchen Gruppen- oder Menschheitsbewegung
können die Folgen gut oder schlecht sein. Eine übertriebene Sehnsucht nach
Fortbestand ohne Beachtung der Qualität
dieses Fortbestands macht die Menschen in Zeiten großer Unsicherheit anfällig
für das destruktiv-totalitäre, das faschistische System.
Es muss bereits ein Wertemangel vorhanden
sein, um einen gigantischen Reinfall auf ein faschistisches System vollziehen
zu können. Mit anderen Worten, der Fortbestand als Individuum und Familie muss
bereits zum hohlen Gefäß des bloßen Fortbestands entartet sein, damit das
Vakuum der Sinnentleerung jeden beliebigen Superwert, der an dumpfe
vorzeitliche Regungen anklingt, augenblicklich ansaugt.
Die Angst um den bloßen Fortbestand ist um
so größer, je weiter sich die Einzelseele von der Gewissheit ihres Weiterlebens
nach dem Tode und der für spirituell orientierte Menschen oft ganz
selbstverständlichen Wiedergeburt in einem neuen Leben entfernt hat. Daher die ängstliche Sehnsucht, dazuzugehören und
„ein Teil von etwas zu sein“, im Gegensatz zu der freudigen Bereitschaft, sein
als geistiges Wesen sowieso gesichertes Sein auf etwas Größeres als den
einzelnen Organismus oder die bloße Sippschaft auszubreiten.
Hitler hat die Verzweiflung des zum
sterblichen Tier erklärten Menschen dämonisch ausgenutzt und ad absurdum
geführt. Denn heilig nennt man das,
was ewigen Fortbestand zu sichern scheint. Das Tausendjährige Reich! Wer Teil
des Tausendjährigen Reiches ist, wer in diesem Reiche aufgeht – dessen
Fortbestand ist gesichert. Die arische Rasse! Wer sich damit identifizieren
kann, lebt fort von Anbeginn bis Untergang der Geschichte. Ganz egal, wie
hirnrissig diese „arische Rasse“ definiert ist. Spätestens wenn dann vor
Stalingrad die gefrorenen Füße abgesägt werden, besinnt sich das genarrte
Individuum mürrisch eines Besseren.
Die Anfälligkeit, sich für einen
derartigen Wahnsinn zu begeistern, steigert sich fieberhaft, seit der moderne
Materialismus aufgekommen ist: dass der Mensch nur ein Tier sei und dass er für
immer tot sei, wenn er stirbt. In Russland diente daraufhin als Überlebensmotiv
der Fortgang der sozialistischen Weltrevolution und die Schaffung einer Art
friedlichen Gottesreiches auf Erden in Form eines paradiesischen
kommunistischen Endzustands der Geschichte. Es war der Fortgang der Geschichte
durch eine vermeintlich unabwendbare Folge von Klassenkonflikten und
Evolutionsstufen, der hier zum göttlichen Prinzip erhoben wurde, in dem der
Einzelne aufgehen konnte. Diese Gedankengänge erforderten jedoch eine enorme
abstrakt-intellektuelle Anstrengung und mussten der russischen Bevölkerung daher
viel brutaler aufgezwungen werden als der Nationalsozialismus den Deutschen.
Der Intellektuelle vermag diesen Sprung zur Identifizierung mit den
„historischen“ Prinzipien des Marxismus erheblich leichter zu vollziehen; so
schrieb zum Beispiel Rosa Luxemburg im Januar 1919, am Tage vor ihrer Ermordung
nach der gescheiterten Revolution: „Die
Revolution wird sich morgen schon ‚rasselnd wieder in die Höh’ richten‘ und zu
Eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“
– So weit kann das führen, und es sollte niemanden wundern, wenn eine solche
Figur mit verjüngtem Antlitz etwa dreißig oder achtzig Jahre später erneut auf
dem Schauplatz erscheint und ihr Werk mit ungebrochener Leidenschaft fortsetzt
– obwohl Marxisten notorisch dafür bekannt sind, an keinerlei Wiedergeburt oder
Auferstehung zu glauben..
Ludwig Feuerbach wies in seiner Schrift Die Unsterblichkeitsfrage (1846) als
einzigen Weg zu relativer Unsterblichkeit für ein im Grunde rein materiell
verstandenes Wesen die Ansammlung von Verdiensten und Denkwürdigkeiten im
weltlichen Dasein, sodass eine Art Fortleben in der Erinnerung und durch das
Ergebnis irdischer Werke gesichert wäre. Er wollte auch an die Stelle der
Gottesliebe die Menschenliebe als die einzige, wahre Religion setzen, und an
die Stelle des Gottesglaubens den Glauben des Menschen an sich selbst. Der Sinn
des Lebens wird so zum Sinn des Lehms.
Es mag auf einer trübseligen Ebene gut
gemeint gewesen sein, aber der Einzelne hat keine große Chance, sich einen
solchen Fortbestand zu sichern. Zynisch gesagt: Spätestens dreißig Jahre nach
seinem physischen Ableben bleibt von ihm meist nur ein vergilbtes Foto im
Familienalbum, und auch das ist schon aus der Mode gekommen.
Ist der Einzelne nicht durch die
Gewissheit seiner immerwährenden Existenz als geistiges Wesen gefestigt, die
mit der Gewissheit des Fortbestands anderer Seelen einhergeht und gleichzeitig
für die Aufrechterhaltung eines gesunden moralischen Fundaments, eines starken
persönlichen Wertesystems und wahrer Würde nahezu unentbehrlich ist, dann ist
er nur noch ein tickendes biochemisches Phänomen, nur noch leere materielle
Hülse und hilfloses Blatt im Wind – zumindest angesichts der ungeheuren
Dimensionen der Geschichte und des materiellen Kosmos.
Nachdem der Einfluss der christlichen
Kirchen, die das Individuum wenigstens in eine Verantwortung vor Gott
eingebunden hatten, unter dem Ansturm von Wirr- und Betonköpfen wie E. M.
Arndt, Hegel, Marx, Feuerbach, Wagner, Nietzsche, Treitschke, Bismarck, Wundt
und Freud sowie durch die niederschmetternde, brutalisierende Erfahrung des
Ersten Weltkriegs weitgehend erloschen war, erwies sich die allein gelassene,
umdunkelte, zum tierischen Nebenprodukt erklärte menschliche Seele als äußerst
anfällig für einen gewaltig posaunenden Diesseits-Erlöser und
Kriegsgott-Messias wie Adolf Hitler, der unter voller Ausnutzung des neuen
Massenmediums Rundfunk ein schier unendliches Überleben als Teil eines
weltbewegenden Ganzen versprach.
Es nimmt nicht wunder, dass das gleiche
Phänomen auch Russland in Gestalt Lenins und Stalins, Italien in Gestalt
Mussolinis und Spanien und Portugal in Gestalt minderer (das heißt: etwas
konstruktiverer) Diktatoren erfasste.
Nun sagte ja Schiller so schön:
Immer strebe zum Ganzen! Und, kannst
du selber kein Ganzes
Werden,
als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an!
Trau, schau
wem! – hätte er hinzufügen sollen. Und es sind ja auch zwei ganz verschiedene
Dinge. Drei, genau gesagt. Man kann durch geistige Ausweitung, Einbeziehung und
Bruderschaft in die Welt hinaus zum Ganzen streben; man kann sich einem Ganzen
anschließen, das zerstörerisch ist und alles, was es erfasst, mit sich
hinabzieht; oder man kann einem Ganzen dienen, dessen Ausweitung für alle Welt
eine Bereicherung ist. Dass ein „Ganzes“ zu einem so furchtbaren Moloch werden
könnte wie die Nazi- und Sozi-Staaten des 20. Jahrhunderts, hatte Schiller zum
Zeitpunkt seiner Empfehlung kaum vorhersehen können.
Wer sich seine
Geistigkeit und einen gewissen geistigen Adel bewahrt hat, fällt auf den bösen
Spuk, auf die Mächte der Finsternis, nicht herein. Hitler wirkte auf die Masse,
oft auch auf den Einzelnen, hypnotisch; doch im gleichen Zuge wird meist
angemerkt, dass diesem Banne nur erlag, wer ihm erliegen wollte.
Wer seine Geistigkeit bewahrt hat,
überlebt als Geist, und er überlebt durch Ideen, durch deren Verbreitung – und
in gewissem Sinne auch als Idee. (Im
kleinen Rahmen können es einfach die Werte sein, die man an seine Kinder und an
seine Nachbarschaft weitergibt.) Daher ist bei einem solchen Menschen der
Hunger nach Fortbestand nicht so übermächtig, dass dieser durch flammendes
Aufgehen in einer Massenbewegung gesättigt werden müsste. Als Erstes würden
deren Ziele und Handlungen gründlich geprüft.
Hitler und sein engerer Zirkel spielten mit böser Lust
am essenziellen Grundproblem herum: Warum ist überhaupt Etwas da? Warum ist
nicht lieber einfach ... Nichts? Wer diesen Sprung vollzieht und keine anderen
gefestigten Werte kennt – und sich obendrein langweilt –, hilft gerne mit,
den Weltuntergang heraufzubeschwören; wenigstens ist ein „grandioses Spektakel“
dabei zu erwarten. (Die Jungs, die sich dazu hergeben, an den Schalthebeln der
immer noch bestehenden Atomraketen-Silos Dienst zu tun, dürften sich einer
ähnlichen bösen Lust verschrieben haben, sonst wären sie dort nicht gelandet.)
Der Antisemit Richard Wagner tat mit seiner Götterdämmerung
und anderen schwülstigen Machwerken den wegweisenden künstlerischen Schritt in
dieser Richtung. Die Nazis vollstreckten seine Visionen in den großen, blutigen
Dimensionen der Weltgeschichte, und Hitler, ein menschlich hohles
Propagandagenie, das sich ursprünglich nur als „Trommler“ sah und schließlich
in die Rolle schlüpfte, für die er getrommelt hatte, wurde im Nachhinein zur
dominierenden Verkörperung des unerklärlichen Bösen stilisiert. Auf ihn kommt
es aber gar nicht an. Es kommt auf den Einzelnen an, den Einzelnen, den Sie
„Ich“ nennen, jenes Ich, das Sie immer schon waren, jederzeit sind und in
Ewigkeit sein werden.
– Copyright © 2005 Eckehard Junge
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