Die Invasion der Schlammwesen
Herr Willy Stier,
fettwülstig und Ende fünfzig,
hatte so ziemlich die Nase voll. Im Augenblick hatte er auch den
Bauch voll und das Blut voll tanzender Promille-Nullen. In
seinem Stammcafé, der Goldenen Schmalzgans, war zur
verantwortungslosen Nachmittagsstunde nichts los, nur er selbst,
sein schweigsamer Saufkumpel Henning Pott und ein paar
wieselgesichtige Halbweltler links in der Ecke versuchten die
Zeit mit dem sinnlosen Leeren von Gläsern totzuschlagen. In
Libyen war Bürgerkrieg, in Moskau verdingte sich Willys Tochter
neuerdings als Zuhälterin, und auf den Straßen von K., wo die
Guten fast so selten sind wie die Bösen, regierte Grau in Grau.
Der
Wirt erlaubte sich einen üblen Scherz, wie es donnerstags
manchmal seine Art war, und schickte eine niedliche nackte
Blondine in den Ausschank, die Willy und Henning einen Korn
eingoss, „aufs Haus“, frech grinste, mit dem Hintern wackelte
und sich wieder in den hinteren Flur verdrückte. Herr Pott
kriegte hinter seinen daumendicken Brillengläsern kaum noch ein
Funkeln ferner Erinnerung zustande, und Willy saß wie ein
Häufchen Elend, schlaff zusammengesunken auf seinem Barhocker.
Er hatte früher mit glühender Inbrunst an Göttinnen geglaubt und
in jeder hübschen Dame zumindest eine Fee, oft jedoch eine
Hohepriesterin, eine Königin oder gar einen leuchtenden Engel
gesehen. Er neigte heute zu der trostlosen Interpretation seiner
soziologisch und psychologisch geschulten Neffenclique nebst
deren Schwiegermüttern, es habe sich dabei nur um einen
persönlichen Knick in der Pupille gehandelt und er hätte am
laufenden Band die Chance verpasst, durch simplen Sex mit real
existierenden Mädels die einzige sinnvolle Befriedigung zu
finden, die ihm als kräftigem Fleischklumpen zustand.
Aber leider befand er sich in jenen fernen Zeiten, als seine
Lenden noch vor Kraft gestrotzt hätten, im Bannkreis des
gewitzten Gurus Kurt Knapp-Höhning, kurz KKH genannt, der in
einem Vorort von Münster die verwirrten Menschenpuppen nach
seiner Pfeife tanzen ließ, indem er sie, in manchen Fällen
sieben Jahre lang, achtzehn Stunden pro Tag im Keller für sich
schuften ließ, woraufhin sie sich in einem überfüllten
Schlafsaal kurz ausruhen durften, um dieselbe Schinderei sieben
Tage die Woche fortzusetzen, bis sie zu der erlösenden
Erkenntnis gelangten, man dürfe sich eben nicht übers Ohr hauen
lassen. Willy war zwar nicht so blöd gewesen, sich jemals auf
dieses Schlafsaal- und Kellergefängnis einzulassen, denn KKH
verdiente sich mit seiner religiös angehauchten Sklavenfabrik („alles
Freiwillige“)
eine goldene Nase, weil er die Möbel, die in dem unterirdischen
Arbeitskerker spottbillig erzeugt wurden, mit gigantischem
Profit verkaufen konnte; und dieser Wahnsinn allein hätte
ausreichen sollen, um sich mit Grausen abzuwenden! Na, immerhin
hatte Willy sich geweigert, die umfangreichen, sittenwidrigen
Verzichterklärungen für ein solches Abhängigkeitsverhältnis zu
unterzeichnen
(Verzicht
auf Gehalt, Verzicht auf Menschenrechte, Verzicht auf
Sozialleistungen, Verzicht auf Widerrede, Verzicht auf
Familienkontakte usw.), und hatte sich
noch eingeredet, er sei besonders intelligent, weil er diese
schamlose Ausbeutung durchschaute. Aber er war offensichtlich
nicht klug genug gewesen, um die übertriebenen Zauberei- und
Illusionstheorien Knapp-Höhnings als Zeitverschwendung und
realitätsfernen Hokuspokus zu identifizieren, jedenfalls wenn
man so unpraktisch damit umging, wie es eben Willys Art war. In
Wirklichkeit war es ganz anders gemeint, nämlich als
Aufforderung zum konkreten magischen Machtzuwachs, aber weil
Willy ein Traumtänzer war, hatte er gemeint, es sei einfach eine
Bestätigung seiner hauchdünnen, schleierhaften, viel zu zart
gewobenen Traumgespinste, und diese persönlichen Traumwelten
seien die wirkliche Wirklichkeit, jetzt nachdem KKH ihnen
sozusagen sein philosophisches Gütesiegel aufgedrückt hatte. Das
ersparte Willy sehr weitgehend die unangenehme Konfrontation mit
der Wirklichkeit, obwohl der große Guru die Leute eigentlich zum
abenteuerlichen Lebenskampf und Lebensgenuss aufforderte. Oder
was? Seit Willy trotz all dieser widersprüchlichen Macht- und
Erlösungs-Träume schlicht und einfach alt wurde, ja
gewissermaßen gebrechlich oder allzu schwerfällig in seinen
Bewegungen, wusste er nicht mehr ein noch aus.
Ja,
ja, okay, nicht nur der Guru hatte schuld, sondern Willy war
auch von sich aus kein Kajakfahrer, kein Astronaut und kein
großer Liebhaber des deftigen Sexuallebens gewesen, er hätte am
liebsten nur stundenlang in glänzende Augen geschaut und sich in
der Tiefe einer weiblichen Seele verloren, überirdisch und
ausgeflippt, aber aufgrund dieser unrealen Neigung waren ihm
reihenweise die schönsten Mädchen davongelaufen, bis der große
KKH ihm ohne viel Federlesens eine resolute Ehefrau aufhalste,
„damit er endlich mal was Ordentliches zwischen die Finger
kriegte“. Der therapeutische Wert dieser Maßnahme erwies sich
aber als äußerst zweifelhaft, weil es eben doch gegen Willys
Natur war, sich auf die handfeste fleischliche Wirklichkeit
einzulassen, oder wenigstens hätte er gern so getan, als ob es
diese gar nicht gibt. Darum hatte er sich in der Folgezeit aus
KKHs dicken esoterischen Wälzern, während manchmal sein früh
geborenes Töchterlein stundenlang schrie, immer gerade
diejenigen illusionsbetonten Schwärmereien herausgelesen, die zu
seiner großen Sehnsucht nach bunten Götterwelten passten. KKH
wusste, wie man den Menschen Dinge verkauft, die ihnen sowieso
vom Herrgott mit auf den Weg gegeben sind, nämlich die Kraft der
Illusion, die Unsterblichkeit der Seele, die persönliche
Freiheit und das Geborgensein in der Ewigkeit.
Willy war es recht gewesen. Später jedoch, als die biologischen
Kräfte nachließen, hatte Willy zunehmend den Eindruck, dass auch
das spirituelle Feuer allmählich erlosch, und das gab ihm bitter
zu denken. War sein Geist am Ende ein Produkt der Materie? Nein,
nein! Kotz, kotz! Aufdringlich nagte dieser Gedanke an seinem
Bewusstsein, wie ein Heer schmatzender Maden, das bereits unter
dem Bett angetreten ist, um demnächst, wenn es vorbei sein wird,
eine Fressorgie zu veranstalten. Denn die Gattin, die ein
solches Nachspiel hätte verhindern
können, war ihm längst wieder abhanden gekommen.
Trotzdem! Willy blickte tief seufzend in sein Bierglas, das
unter dem Kaleidoskop der kreiselnden bunten Thekenlichter der
Goldenen Schmalzgans mystisch schillerte, schloss die Augenlider
bis auf ein sanftes Blinzeln, ließ die goldenen Lichtelemente
seiner Kneipe mit dem goldenen Schwall des Bieruniversums und
seinen eigenen, ach so fernen jugendlichen Hoffnungen
verschmelzen, betete sich außerdem ein Element göttlicher Gnade
herbei, und siehe da, für wenige Minuten, leicht schaukelnd auf
dem Barhocker, verschmolz er wieder mit seiner Göttin. Diese
Momente waren jetzt nicht mehr besonders leicht zu erreichen,
aber er hoffte, nach dem Tode seines Körpers würden sie sich zu
einer wunderbaren, alles umfassenden Heiligen Präsenz im
göttlichen Licht ausbreiten und sich in Ewigkeit zum jubelnden
Daseinsglück schlechthin verallgemeinern.
Diese Hoffnung bestand immerhin fort!
Herr Stier begann mit dem ganzen Barhocker zu schwanken, weil er
sich auf dem Ozean des ewigen himmlischen Liebesglücks wähnte.
Zum
Glück war in diesem Augenblick der fürsorglich schnaufende Herr
Pott bei ihm angekommen und griff ihm mit kräftigen
Maurerfingern von hinten in den Hosengürtel, um ihn zu
stabilisieren.
„Willy! Mensch, Willy!“, rief Henning Pott. „Reiß dich zusammen!
Du hast jetzt genug, außer du willst uns ausgerechnet heute in
den Sarg hüpfen! Ich kenne deine jämmerlichen Absichten,
irgendwann in den Suppenkessel der Venus hineinzuplumpsen! Das
kannst du knicken, Kumpel! Nicht, solange ich noch
ein Auge auf dich habe!“
Es
war erstaunlich, wie viele Worte aus dem schweigsamen Saufkumpan
herausströmen konnten, wenn Not am Mann war. Willy wurde so
lange abgeklopft, bis er wach genug war, um die Zeche zu zahlen
und sich auf den Heimweg zu machen.
Er
kam an der Schlittschuhbahn vorbei, die freilich längst
aufgetaut war. Eine eklige hellblaue Fläche mit allerlei Unrat,
Nacktschnecken und brüchigen Spiegelbildern grauer
Wolkenflächen. Der alte Willy atmete die kühle Schmutzluft des
chemischen Industriekomplexes tief ein und fühlte sich schon
beinahe besser, als die Welt sich ein bisschen verbog, leise
aufstöhnte und ein Geheimnis preisgab, das ruhig auf einen
anderen Tag hätte warten können.
Zuerst
vibrierte nur ein wenig der Boden. Dann zeigte sich die Ankunft
des Unglaublichen in den verstreuten Pfützen, die sich
bedenklich verdunkelten, weil sie alle miteinander eine Art
schwarzgraue Masse widerspiegelten. Willy hob langsam und
ungläubig den Kopf. Hoch oben, wo vorher die Wolkenfetzen
herabhingen, hatte sich eine gigantische, finstere Scheibe
herangeschoben, und hilf Himmel, es war ganz bestimmt keine
Wolke, sondern ein Ding.
Willy war zu sehr betrunken, als dass ihm der Atem stocken
konnte, aber er stand wie versteinert, als Tausende von großen,
kräftigen Männern aus blau leuchtenden Löchern am Rand der
Scheibe herabsprangen und federnd auf Dächern und Plätzen
landeten, sich geschickt wieder hochkatapultierten, mühelos über
hohe Bäume hüpften und sich in Windeseile auch schon auf der
Schlittschuhbahn direkt vor seiner Nase versammelten. Die Kerle
waren mindestens zweieinhalb Meter groß, hatten kaum
Gesichtszüge, aber feuerrot glühende große Augen, und kamen
jetzt langsam auf ihn zu. Es war keine Kleidung zu erkennen,
aber sie waren alle von hellgrauem Schlamm bedeckt, der zum Teil
in obszön herabgleitenden Fetzen hing und manchmal auch in
schweren Tropfen auf den Boden klatschte. Ein unterschwelliges,
betäubendes Brummen lag in der Luft.
Den
armen Bierschlucker packte das kalte Grausen. Er wandte sich um
und flüchtete mit einem Tempo, das ihm niemand mehr zugetraut
hätte, über den Parkweg, über die Straße, in einen Kellereingang
und … die Tür ging auf, er befand sich in einem kleinen
Ramschladen, stürzte zwischen Puppen, Briefmarkensammlungen und
Zinnsoldaten hindurch auf den entgeisterten alten Herrn hinter
dem Verkaufstisch zu, warf sich hinter ihm auf den Boden und
zitterte wie Espenlaub. „Sie kommen, sie kommen!“, würgte er
noch hervor. Dann verließ ihn das Bewusstsein. Zumindest gab es
einen Filmriss.
Erst in der Ausnüchterungszelle der Polizei kam er wieder zu
sich. Ein dunkelblauer Bulle trat an das Gitter heran und sagte
gutmütig: „Was haben Sie da für einen Schmarrn erzählt!
Riesengroße graue Männer aus Schlamm? Eine UFO-Invasion?“
„Ich habe sie deutlich gesehen!“ schrie Herr Stier.
„Schlafen Sie aus und halten Sie die Klappe“, empfahl ihm sein
Wächter. „Sonst landen Sie noch in der Klapse.“ – Autsch! Das
saß. Da wollte er nicht hin! Hm! Die saßen und latschten da
draußen alle seelenruhig herum … Delirium? Die
berüchtigten weißen Mäuse? War das die ganze Erklärung?
Herr Stier legte sich auf die Pritsche, fühlte sich todmüde,
ließ sich fallen und durchwanderte ein Land beruhigender
Schwärze, zwar lieblos, dafür aber segensreich traumlos.
Als
er erwachte, weil der Schlüssel knirschte und jemand ihn vor die
Tür setzen wollte, war trotz des Kopfwehs sein spontaner
Entschluss gefasst, sich in nächster Zeit möglichst vernünftig
zu benehmen und einen klaren, selbstbestimmten Kopf zu behalten.
Und zu Hause erwartete ihn ein gut gemeinter Scheck seiner
Tochter, der Zuhälterin von Moskau. Oh ja, nun würde sich das
Leben wieder ordnen lassen. Es hatte wohl doch einen Sinn
gehabt, wenigstens einmal auf seiner Lebensbahn einen
fruchtbaren Schuss in eine konkrete fleischliche Stelle zu
setzen. Er würde jetzt absolut klar bleiben! Klarer als KKH.
― Eckehard Junge, 26. Februar 2011 |