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RÄTSEL DER MENSCHHEITSGESCHICHTE

DER MYTHOS DER PRIEURÉ DE SION

Pierre Plantard erfindet eine Geheimgesellschaft

 

Der erfolgreichste Lügenbaron des 20. Jahrhunderts

Manche Menschen lieben Monarchien. Manche lieben sie besonders dann, wenn sie selbst als König oder Königin posieren könnten. Nehmen wir mal an, Sie sind der Sohn einer Köchin und eines Butlers, und Ihr Stammbaum verliert sich irgendwo bei den Schweinehirten. Wie würden Sie es anstellen, die Monarchie wieder einzuführen und sich obendrein als Thronanwärter zu präsentieren? Genau dieses Privatproblem hatte ein Franzose namens Pierre Plantard, und wenngleich er zu Lebzeiten nicht mehr gekrönt wurde, erlangte er doch unsterblichen Ruhm als erfolgreichster Lügenbaron des 20. Jahrhunderts. Ob man ihn ernsthaft mögen kann, steht auf einem anderen Blatt; denn seine endlosen kleinen Scherze haben beispiellose Verwirrung gestiftet.

Mag sein, dass Sie von Pierre Plantard noch nie gehört haben. Aber die ansteckende Wirkung seiner blühenden Phantasie schaukelt sich seit Jahrzehnten zu einem gewaltigen Mythos hoch, der trotz seines absurden Inhalts die Welt mit Buchauflagen in Millionenhöhe überzog und sich im Mai 2006 unter dem Filmtitel „Sakrileg“ (The Da Vinci Code) zu einem der größten Kassenschlager aller Zeiten mauserte. Sicher, das große Geld haben andere abgesahnt, aber für Pierre Plantard bleibt die unbezahlbare Ehre und das todsichere Vergnügen, Schritt für Schritt seine private Spinnerei zum planetarischen Mega-Ereignis gemacht zu haben. Für alle, die den nichtkommerziellen Aspekt der künstlerischen Selbstverwirklichung lieben, für alle, die in der Welt vor allem ein Produkt aus Wille und Vorstellung sehen, für alle Bewunderer einer versponnenen, eigenwilligen Menschenseele, die stur und stocksteif ihre eigene Innenwelt zum höchsten Maßstab erhebt, ist Pierre Plantard ein Paradebeispiel für die unaufhaltsame Macht des Träumers ... (räusper) ..., Lügners ... und Urkundenfälschers.

Jawohl, es war eigentlich nur ein umständlicher, trivialer Schabernack, als Plantard in jahrzehntelanger Kleinarbeit allerlei hintersinnige Andeutungen, Dokumentenfälschungen, esoterische Schriften und gezinkte Stammbäume in Bibliotheken und komischen kleinen Zeitschriften hinterlegte, um ganz, ganz leise die böse, weite Welt auf seine Vorstellung einzuschwenken. Aber in Zusammenarbeit mit wenigen eingeweihten Freunden hat er es tatsächlich geschafft. Dieser kleinen Clique ist es gelungen, zahlreichen esoterischen und verschwörungstheoretischen Autoren die Existenz einer mächtigen, uralten Geheimgesellschaft namens Prieuré de Sion vorzutäuschen, die das Erbe der Merowinger und womöglich gar das Geheimnis ihrer Abstammung von Jesus und Maria Magdalena hütet. Darauf liefen doch all die Andeutungen letztlich hinaus. Die Welt wurde seither von einer unglaublichen Bücherflut im Sinne Pierre Plantards überschwemmt, und es entstand ein Kult, von dessen religiösen Konsequenzen Plantard selbst überrascht und eingeschüchtert wurde, denn nun befand er sich in allzu tiefem Wasser. In Wirklichkeit war es nur eine Verabredung zur Vorspiegelung einer Geheimgesellschaft. Wenn man jedoch die Ausmaße und Folgen dieser Vorspiegelung betrachtet, die ungeheure Energie, mit der die weitgehend gleichgeschaltete Medienwelt ausgerechnet diese Vorspiegelung vorangetrieben hat – wieso gerade diese? –, dann stellt sich die Frage, ob eine so groß aufgezogene, undurchsichtige, wuchernde „Verabredung“ nicht selbst eine Art Geheimgesellschaft darstellt oder ihr zumindest im Endeffekt gleichkommt.

Jawohl, der plantardsche Herrschaftsanspruch, vorgetragen zugunsten der „Merowinger“, ist eigentlich ein albernes Ablenkungsmanöver, das spirituell motivierte Menschen zu einer unglaublichen Zeitverschwendung verleitet, denn sobald man sich mit Plantards Hinterlassenschaft an Merowinger-Mystik, steinreichen südfranzösischen Dorfpriestern, Magdalena-Mythen und düsteren Templer-Geheimnissen befasst, kommt man jahrelang aus dem Dickicht der Unbeweisbarkeit und Unwiderlegbarkeit nicht wieder heraus. In diesem Sinne ist es ein scheußlicher Unfug. Aber das Ganze ist auch extrem unterhaltsam und hat der Öffentlichkeit zumindest eine kleine und durchaus wahre Botschaft vermittelt: dass offenbar nicht alles so gelaufen ist, wie Kirche und Staat es uns Jahrhunderte lang, Jahrtausende lang erzählt haben. Und das war doch schon eine Leistung.

Jawohl, auch die Geheimgesellschaft Prieuré de Sion ist im Grunde ein Betrug, ein Schwindel, ein Lügengespinst. Genauer gesagt, es gibt sie gar nicht. (Falls doch, möge sie bitte irgendwo Farbe bekennen!) Aber die raffinierte Methodik, die verblüffende Geduld und jahrzehntelange Gründlichkeit, mit der dieser Schwindel zum weltweiten Mythos erhoben wurde, erweckt unweigerlich das Interesse des politischen oder soziologischen Forschers, der anhand zahlreicher Einzelheiten den elementaren Mechanismus eines Massenwahns zu ergründen versucht. Außerdem kommt bei historischen Studien auf der Fährte der plantardschen Phantasie eine Unmenge an schillerndem Faktenmaterial zum Vorschein. So lernt man eine Menge dazu. Und famoserweise hat Plantard für sein Lügengebäude auch zahlreiche einzelne Bausteine verwendet, die auf erstaunlichen, aber nachprüfbaren Fakten beruhen; so führt man geschulte Historiker in die Irre. Dass zahlreiche einzelne Bruchstücke plausibel sind, heißt aber noch lange nicht, dass die Verknüpfungen oder gar das beabsichtigte Gesamtbild stichhaltig wären.

Beginnen wir einfach von vorn! Folgen wir dem abenteuerlichen, spinnerten Lebenslauf eines sympathischen, schlitzohrigen Möchtegern-Königs, der den wohl skurrilsten Mythos unserer Zeit so liebevoll erlogen, zusammengestrickt und großgezüchtet hat, bis er weitaus größere Dimensionen annahm, als der Erfinder vorhersehen konnte: Pierre Plantard.

 

 

Der brutale historische Hintergrund

Pierre Athanase Marie Plantard kam am 18. März 1920 in Paris als Sohn der Köchin Amélie Marie Raulo und des Butlers Pierre Plantard zur Welt. Über seine Kindheit liegt nichts weiter vor, außer dass er als Einzelkind aufwuchs, aber als er 17 war – das heißt 1937, als in Deutschland bereits die Nazis wüteten –, begann er, wie es heißt, Phantom-Gesellschaften zu gründen, „um Frankreich zu reinigen und zu erneuern“. Inhaltlich lag er nicht weit entfernt von der faschistischen „Hochstimmung“, die sich in vielen Ländern Europas breitgemacht hatte.

Man muss wissen, dass damals nicht nur Deutschland ein faschistisches Land war, sondern verschiedene Spielarten des Faschismus, oder genauer gesagt des radikalen Nationalismus und Militarismus unter tyrannischen Regierungen auch andernorts herrschten.

In Russland unternahm Josef Stalin grausame „Säuberungen“ unter russischen und ausländischen Parteigenossen, wie ja überhaupt der Kommunismus, sobald er im Sattel sitzt, zu krassen faschistischen Methoden greift. Zahlreiche linke Idealisten endeten in den Folterkellern ihrer eigenen ideologischen Hochburg. In Italien war seit 1922 trotz all seiner bulligen Lächerlichkeit der Diktator Mussolini an der Macht, der sich 1936 fest mit Adolf Hitler verbündete. Im Verlaufe des Spanischen Bürgerkriegs 1936–39 konnte sich in Spanien der harte Nationalist General Franco durchsetzen – mit politischer und militärischer Unterstützung aus Deutschland und Italien. Die parlamentarische Regierung in Portugal war bereits 1926 durch den Militäraufstand des Generals M. de Oliveira Gomes da Costa aus dem Amt vertrieben worden. Seit 1933 war Portugal ein Einparteienstaat, und bis 1974 hielt sich dort eine ausgesprochen autoritäre Staatsverfassung. Polen hatte seit 1926 ein diktatorisches System unter Marschall Piłsudski, der sich im März 1933 durch ein Ermächtigungsgesetz den Weg zu einer autoritären Präsidialverfassung bahnte. Nach Piłsudskis Tod wurden ab 1935 die Militärs unter Marschall E. Rydz-Śmigły staatsbestimmend, woraufhin militärische Pressionen durchaus zum außenpolitischen Instrumentarium Polens gehörten. Hinzu kam eine verschärfte Minderheitenpolitik, auch gegenüber der deutschen Volksgruppe in Polen, und im Fahrwasser Hitlers zwang Polen tatsächlich im Oktober 1938 die Tschechoslowakei zur Abtretung des Olsagebiets. (Die Nazis vernichteten später durch Krieg und organisierten Massenmord ein Fünftel der polnischen Bevölkerung; im Vergleich dazu waren die polnischen Vergehen natürlich „Kleinigkeiten“.) Auf dem Balkan sah es nicht besser aus. König Karl II. von Rumänien übte eine ausgeprägte Willkürherrschaft aus, die sich 1938 zur offenen Diktatur mauserte. Bulgarien erlebte nach einem Militärputsch 1934 die Auflösung der politischen Parteien. In Griechenland errichtete General Metaxas 1936 eine Diktatur, die der königlichen Kontrolle entglitt und in ein faschistisches Regime überführt wurde. Mit anderen Worten, die europäische Landkarte war in den 30er Jahren auch ohne Marschbefehl der deutschen Nazis weitgehend braun gefärbt, und in Ermangelung wahrer spiritueller und freiheitlicher Werte befand sich der Kontinent im Großen und Ganzen auf einem fatalen Irrweg.

Ein halbwegs verständlicher Auslöser der braunen Flut in Europa war die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre, die Ende Oktober 1929 mit einem Börsenkrach in New York einsetzte und sich global ausweitete. Die Folge waren weltweit etwa 30 Millionen Arbeitslose. Erst mit der allgemeinen Aufrüstung in der zweiten Hälfte der 30er Jahre wurde diese Krise überwunden, aber Rüstungsausgaben sind eine Investition in wertlosen Plunder und künftige Zerstörung. Dienten der weit verbreitete Faschismus und die Herbeiführung eines Krieges also als Notventil für eine verfehlte Wirtschaftspolitik? Es sieht ganz danach aus. Außerdem rufen Bevölkerungen in der Not recht bald nach dem „starken Mann“, der sich jedoch häufig als moralischer Schwächling entpuppt. Und angesichts einer Wirtschaftskrise, die alles Grau in Grau erscheinen lässt, beginnen manche Menschen natürlich von den Vorzügen des Adels und einer glanzvollen, uneingeschränkten Monarchie zu phantasieren; das ist die andere, ebenfalls diktatorisch eingefärbte Alternative.

 

 

Dunkelmännertum in Frankreich

Frankreich war in den 1930er Jahren ein demokratisches Land, aber schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dort im Zuge politischer Wirren und eines aufkeimenden Okkultismus zahlreiche Geheimgesellschaften, esoterische Vereinigungen und undurchschaubare Bündnisse. Oft gehörten die Mitglieder gleichzeitig zu mehreren verschiedenen Organisationen, und es gab Abspaltungen, die miteinander konkurrierten. Pompöse Namen und auf dem Papier ausgearbeitete Hierarchien bieten natürlich keinen Hinweis auf reelle Wirksamkeit. Wie oft sich solche Vereinigungen trafen, woran sie konkret arbeiteten und welchen Einfluss sie wirklich ausübten, bleibt meist im Dunkeln. Jedenfalls schälten sich um 1880 zwei immer heftiger rivalisierende Lager heraus, die um die politische Vorherrschaft kämpften. Nach Darstellung des Esoterikers Robert Richardson in einem Artikel unter dem Titel The Priory of Sion Hoax („Der Schwindel um die Prieuré de Sion“, erstmals erschienen in Gnosis Nr. 51, Frühjahr 1999) standen auf der einen Seite die Royalisten, zu denen die Katholische Kirche, die Rechtsextremen und die Anhänger der herkömmlichen Monarchie gehörten, auf der anderen Seite die Republikaner (Befürworter einer Republik), zu denen die Freimaurer und andere Verfechter einer demokratischen Regierungsform zählten. Von 1877 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs übten Freimaurer maßgeblichen Einfluss auf die französische Politik aus, womit sie sich erbitterte Feinde schufen.

Auf republikanisch-esoterischer Seite (soweit man diesem vereinfachten Konfliktmodell Glauben schenken will) formulierte in den 1880er Jahren der einflussreiche Okkultist und Alchimist Joseph Alexandre St. Yves d’Alveydre eine neue Idee, wie man das Wertesystem einer Gesellschaft schrittweise verändern könnte. Er gab seiner Strategie den Namen „Synarchie“ und behauptete, so hätten die Tempelritter die Gesellschaft des Mittelalters umgewandelt. Eine erlesene Schar von Eingeweihten beeinflusst ein ganzes Spektrum von Gruppen, die ihrerseits verschiedene Aspekte der Gesellschaft repräsentieren. Diese Gruppen wiederum sollen ihre jeweilige Sphäre und letztlich die ganze Gesellschaftsordnung beeinflussen. (Richardson, a.a.O.)

Im Grunde ist die „Synarchie“ in diesem Sinne eine Methodik, die eigentlich jede ehrgeizige, elitär denkende Gruppierung aufgreifen könnte, um ihre gesellschaftlichen Ziele voranzutreiben. Deshalb ist eine solche Strategie nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Denn es gibt doch jederzeit handfeste Interessengruppen und idealistische Vereinigungen unterschiedlichster Couleur, die ein Netzwerk der Einflussnahme zu errichten suchen, und dieser ständige Kampf um das Denken der Menschen ist so alt wie die Welt. Ob die betrogenen Volksmassen sich in ihrer Not und Besinnungslosigkeit, ihrer Anfälligkeit für Mythen und simple Erklärungen am Ende den Kommunisten, den Faschisten, den Monarchisten oder einer fanatisch interpretierten Religion anschließen, scheint nur eine Frage des Zufalls und des Massenwahns im entscheidenden Augenblick zu sein. In diesem Moment benutzen die Verteidiger oder Erstürmer der Macht gern das Mittel einer krassen Realitätsveränderung, wie etwa die Inszenierung eines Reichstagsbrandes, eines Angriffs auf Pearl Harbor oder des Einsturzes weltbekannter Hochhäuser. Der Schock sitzt dann tief genug, um einer sorgfältig vorbereiteten ideologischen Grundtendenz zur allgemeinen Vorherrschaft zu verhelfen.

Jedenfalls begannen die Royalisten (Monarchisten) um die vorletzte Jahrhundertwende die Auswirkungen der „Synarchie“ wirklich zu fürchten. Um synarchistisch operierenden Freimaurern und Sozialisten entgegenzutreten, gründeten französische Rechtsextreme in den 1920er und 30er Jahren ihre eigenen, pseudoesoterischen Gruppen, die nur zum Schein an freimaurerische und esoterische Traditionen anknüpften. Den Freimaurern sollte damit das Wasser abgegraben werden. In diese Kategorie der rechtsextremen Pseudo-Esoterik fällt zweifellos auch der ganze Rummel um die Prieuré de Sion: royalistisches Getöse mit einem fadenscheinigen spirituellen Anstrich.

Aber noch sind wir nicht bei der Prieuré de Sion angelangt, jener fiktiven Geheimgesellschaft mit uralter Vorgeschichte, die Pierre Plantards Märchenkiste erst 1956 entsprang und binnen 50 Jahren zum weltweiten Kult heranwucherte. Betrachten wir zunächst sein merkwürdiges Engagement vor dem Zweiten Weltkrieg und in der Besatzungszeit.

 

 

Heroische Umtriebe

Die Weltanschauung der meisten Menschen wird durch Ereignisse in der Jugend geformt und durch nachfolgende Enttäuschungen zwar getrübt und umgeleitet, aber nur selten wieder aufgelöst. Wer zum Beispiel im Alter von 13 bis 25 Jahren den Aufstieg und Sturz eines „Tausendjährigen Reiches“ miterlebt hat und innerlich stark beteiligt war, wird für den Rest seines Lebens davon geprägt sein. Pierre Plantard erlebte in seiner Jugend eine Dauerkrise des parlamentarischen Systems im Gefolge der Weltwirtschaftskrise, den verzweifelten Kampf der französischen Monarchisten, die gern die Uhr der Geschichte zurückgedreht hätten, und die Unterwerfung Frankreichs durch Nazi-Truppen. Er war knapp 14 Jahre alt, als am 6. Februar 1934 die von Charles Maurras (1868–1952) gegründete monarchistische Bewegung Action Française eine große Demonstration veranstaltete und die Republik sich so ernstlich bedroht fühlte, dass sie die Polizei in die Menge feuern ließ. Vier Aktivisten der Action Française starben, viele weitere wurden verwundet. Die Monarchisten hatten damit ihre Märtyrer. An diesem Punkt sah ein Mann namens Eugène Deloncle (1890–1944) seine Stunde gekommen. Maurras wollte keinen allgemeinen monarchistischen Aufstand gegen die Republik anzetteln; Deloncle hingegen gründete 1935 eine rechtsradikale Splittergruppe namens CSAR (Comité Secret d'Action Révolutionnaire) und ging in den Untergrund, um sich terroristisch zu betätigen. Die Wirksamkeit dieser Gruppe, die von den Medien auch La Cagoule („die Kapuze“) genannt wurde, erwies sich als kurzlebig und begrenzt; aus offizieller Sicht soll nur ein Anschlag auf den französischen Industriellenverband im September 1937 auf ihre Kappe gegangen sein.

Deloncle sah offenbar kein Problem darin, Gewaltbereitschaft, Antikapitalismus und Königstreue miteinander zu verbinden. In Frankreich herrschte 1936/37 eine linke Volksfront unter Léon Blum, die weitreichende soziale Reformen durchführte, aber auch diese Regierung konnte sich nicht halten. In Wirklichkeit herrschte allgemeine Verwirrung, und der Druck des militärisch erstarkenden Nazi-Nachbarn im Osten, während in Spanien General Franco auf dem Vormarsch war, förderte das Gefühl der Beklemmung und Nervosität. Jedenfalls wurde Eugène Deloncle im Juli 1938 verhaftet und beschuldigt, die Errichtung einer Militärdiktatur unter Marschall Louis Franchet d’Esperey geplant zu haben – einem Helden des Ersten Weltkriegs, der sich aber schleunigst von solchen Umtrieben distanzierte.

Der monarchistische Originalverein Action Française hatte an den Oberschulen eine beträchtliche Anhängerschaft gewonnen. Viele dieser jungen Leute ließen sich als Nächstes von den radikalen Tendenzen der „Kapuzenmänner“ Deloncles begeistern. Ein Oberschüler namens Pierre Plantard war von Deloncle so fasziniert, dass er in Schwierigkeiten mit der Polizei geriet, allerdings ohne sich terroristisch betätigt zu haben. Mit 17 verließ Plantard vorzeitig die Oberschule und gründete mit einigen Freunden die Union Française, die an Deloncles Ideen anknüpfte. Ein direkter Kontakt zu Deloncle selbst, der im Untergrund arbeitete, ist eher unwahrscheinlich. Plantards Hang zum Mysteriösen und zur Symbolik begann in Erscheinung zu treten: er fand das Gründungsjahr 1937 bedeutsam, weil es eine „Umkehrung“ der Jahreszahl 1793 darstellte, des Jahres, in dem während der Französischen Revolution die Periode der antimonarchistischen Schreckensherrschaft unter Robespierre begann. Anders gesagt, 1793 rollten die Köpfe der Königsfamilie (Ludwig XVI., Marie Antoinette) und des Adels, und 1937 wollte Pierre Plantard mit seiner Union Française beginnen, die Auswirkungen der Französischen Revolution rückgängig zu machen. Wer schwach dasteht, der greift, um sich zu stärken, gern zu einer Schnapsidee wie der Numerologie, was allemal unterhaltsamer und eindrucksvoller ist, als direkt zur Schnapsflasche zu greifen.

Pierre Plantard wohnte seit 1926 und bis Mitte 1942 in Paris am Place Malesherbes Nr. 22 bei seiner Mutter, dann im selben Stadtviertel mit ihr an der Adresse 10 Rue Lebouteux. Immerhin war er schon 1938 betriebsam genug, um das nötige Geld für die Herausgabe einer illegalen wöchentlichen Flugschrift namens La Rénovation Française („Die Erneuerung Frankreichs“) aufzutreiben, die in Paris mit einer Auflage von etwa zehntausend Exemplaren gratis verteilt wurde. Die Verbreitung dieses Pamphlets wurde 1939 eingestellt.

Laut Polizeibericht vom 9. Mai 1941 (Akte Ga P7 der Pariser Polizeipräfektur) leitete Pierre Plantard Ende der 30er Jahre eine katholische Jugendgruppe, die Groupement Catholique de la Jeunesse – eine lose Vereinigung, die sich mit Freizeitaktivitäten für junge Leute aus verschiedenen Gemeinden befasste und jährlich ein Ferienlager in Plestin-les-Grèves (Côte-du-Nord) veranstaltete (1939 mit 75 Teilnehmern). Im Rahmen dieser Jugendgruppe soll Plantard auf mehreren Konferenzen für junge Leute als Redner aufgetreten sein, namentlich am 20. Juni 1939 im „Salle Villiers“ in der Rue de Rocher.

 

 

Das Vichy-Regime

Am 3. September 1939 erklärten Frankreich und Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg, weil die deutschen Streitkräfte Polen angegriffen hatten. An der deutschen Westfront geschah zunächst sehr wenig, denn Briten und Franzosen begannen erst jetzt energisch aufzurüsten, überschätzten auch die aktuelle militärische Stärke Deutschlands und verharrten deshalb passiv hinter der Maginotlinie (einem Festungswall an der gemeinsamen Grenze), während deutsche und sowjetische Truppen gemäß einer Absprache zwischen Hitler und Stalin von beiden Seiten her Polen überrannten.

So beschreibt zum Beispiel Ernst Jünger, damals Wehrmachtsoffizier, die Lage am Rhein mit folgenden, typisch ästhetisierenden Worten: „Bei Greffern, 15. November 1939: Die Franzosen zeigen sich, ohne dass wir auf sie schießen, und umgekehrt. Auch läuft in dieser Landschaft das Leben weiter, das zwar gehemmt, doch nicht ganz unterbrochen ist. Zwischen den Werken und Gräben pflügen die Bauern und bringen die Rübenernte ein. Auf der Straße nach Rastatt, die dicht an meinem Bunker vorüberführt, rollen die Autos – vielleicht mit Geschäftsreisenden oder auch einem Liebespärchen darin. Dieses Neben- und Durcheinander der Kreise erinnert an die Optik in den Träumen und ist bezeichnend für unsere Welt, deren gefährliche Züge es eher verstärkt. Die Räume und ihre Stimmungen überschneiden sich wie in den Lichtspielen.“ (Ernst Jünger, Gärten und Straßen, Ernst Klett Verlag, Stuttgart, S. 63) – Nun, jeder Krieg ist anders.

Erst im Mai/Juni 1940 erfolgte der deutsche Westfeldzug durch die Benelux-Länder und nach Nordfrankreich, mit dem Ergebnis – dass Deutschland gemäß dem Waffenstillstandsabkommen von Compiègne (22. Juni 1940) Frankreich zu drei Fünfteln besetzte. Ganz Nordfrankreich sowie die französische Westküste standen nun unter direkter Kontrolle des deutschen Militärbefehlshabers in Paris. Die konkrete Verwaltungshoheit der verbleibenden französischen Regierung, die nach ihrem Regierungssitz, dem Kurort Vichy in der Auvergne, den Namen „Vichy-Regime“ erhielt, erstreckte sich nur über 40 % des Mutterlandes und die Überseegebiete. Staatsrechtlich unterstand dem Vichy-Regime zwar ganz Frankreich mit Ausnahme des von Deutschland annektierten Elsass-Lothringen, aber in der Praxis mussten in den besetzten Gebieten alle Gesetze und Erlasse des Vichy-Regimes zuerst von der deutschen Militärverwaltung genehmigt werden.

Als die Alliierten in Nordafrika gelandet waren, besetzten Deutsche und Italiener im November 1942 auch das bislang unbesetzte Frankreich, und nach der alliierten Invasion in der Normandie wurden die Mitglieder der Vichy-Regierung im August 1944 festgenommen.

Staatschef in der Vichy-Regierung, die sich zu weitgehender Zusammenarbeit mit den Deutschen gezwungen sah, war Marschall Pétain. Interessanterweise stellten die deutschen Besatzungsbehörden sich skeptisch zu Pétains Ziel, einen Einparteienstaat nach deutschem oder italienischem Vorbild aufzubauen. Um die Bildung einer antideutschen Einheitsfront zu verhindern, förderten die Deutschen lieber die innerfranzösischen Gegensätze. Daraus erklärt sich die Duldung aller möglichen parteipolitischen, religiösen und regionalen Aktivitäten im besetzten und kollaborierenden Frankreich. Die öffentliche Meinung blieb natürlich gespalten, und nach und nach verschärfte sich der aktive Widerstand gegen die Besatzer.

 

 

Plantard alias Varran de Verestra

In dieser konfusen Gesamtlage versucht nun der leidenschaftliche junge Phantast Pierre Plantard seine Position zu finden. Im Oktober 1940 bewirbt sich Plantard bei der deutschen Besatzungsmacht um eine Genehmigung, die Wochenschrift La Rénovation Française erneut erscheinen zu lassen; die Genehmigung wird verweigert.

Er beginnt sich „Varran de Verestra“ zu nennen und schreibt unter diesem Pseudonym, jedoch mit Angabe seiner korrekten Adresse 22 Place Malesherbes, am 16. Dezember 1940 einen Brief an Marschall Pétain, den französischen Staatschef in Vichy, worin er jugendlichen Patriotismus mit juden- und freimaurerfeindlichen Klischees verbindet. Man sieht vor allem, dass er der gängigsten Verschwörungstheorie seiner Zeit aufgesessen ist. Der Inhalt des Briefs vermittelt einen interessanten Einblick in seine Denkweise:

Sehr geehrter Herr Marschall, mögen Sie mir verzeihen, dass ich mir die Freiheit herausnehme, Ihnen heute Abend zu schreiben. Trotz meiner Aktivitäten, meiner Vorträge und meiner Zeitschrift haben Sie vielleicht noch nichts von mir gehört, sodass ich irgendein unbekannter junger Mann bin, aber welche Rolle spielt das? Sie werden versuchen müssen, mich zu verstehen und mir vor allem zu glauben.

Ich schreibe Ihnen heute Abend, wie ich am 8. September 1939 (per Einschreiben vom 9.9.39 Nr. 255 aus dem Pariser Postamt Nr. 37) bereits [dem damaligen Ministerpräsidenten] Edouard Daladier geschrieben habe, nämlich mit der Bitte, „einem Krieg Einhalt zu gebieten, den die Juden hervorgerufen haben und der schon so viele Menschenleben gekostet hat und den wir nicht gewinnen können“. Während ich selbst an wichtige Aufgaben gebunden bin, betrachte ich es als meine Pflicht, Ihnen hier in wenigen Sätzen die Wahrheit vorzulegen.

Ich weiß, dass Sie in der Tiefe Ihres soldatischen Herzens darunter leiden, dass die französische Bevölkerung Ihre Aufrichtigkeit und Ihren Patriotismus anzweifelt und dass Ihnen dies vielleicht noch größere Schmerzen bereitet als die Auswirkungen der Katastrophe, die wir unlängst erlitten haben. Aber ich weiß auch um Ihre innige Liebe zu unserem Land und bin mir sicher, dass Sie selbst das Unmögliche wagen werden, um es ein weiteres Mal zu retten.

Herr Marschall, Sie müssen handeln – und zwar schnell. Denken Sie bitte nicht, ich würde Ihnen Befehle erteilen: es sind nur flehentliche Bitten eines jungen Franzosen, der die Sache studiert hat, der die Wahrheit kennt und schon seit drei Jahren versucht, seinem Vaterland seine bescheidenen Kenntnisse zugute kommen zu lassen. Ich glaube, wenn ich mit ganzer Kraft meiner Stimme verkünde, was verkündet werden muss, dann werde ich gehört werden, und mein Wissen werde zur Begrenzung der Schäden dienlich sein, die unser Land bedrohen. Wie aussichtslos meine Bemühung auch sein mag, ich habe es mir zur Pflicht erkoren, selbst wenn ich nicht gehört werde, ein weiteres Mal die Wahrheit hinauszuschreien, egal wie schrecklich sie ist: „Herr Marschall, Ihr Leben ist in Gefahr, die Revolution ist bereits unterwegs.“ Sie haben nicht viel Zeit. Schon in acht Tagen könnte sie im vollen Gange sein.

SIE MÜSSEN HANDELN! Bei Erhalt dieses Schreibens müssen Sie unverzüglich strikte, aber völlig vertrauliche Befehle ausgeben. Sie müssen dieser furchtbaren „freimaurerischen und jüdischen“ Verschwörung sofort ein Ende setzen, um Frankreich und die ganze Welt vor einem schrecklichen Blutbad zu bewahren.

Mir stehen zu diesem Zeitpunkt etwa hundert verlässliche Männer zu Gebote, die sich unserer Sache verschrieben haben. Diese Gefolgsleute sind bereit, auf Ihre Befehle hin bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Aber was sind hundert Mann im Angesicht der Macht unserer Feinde? Egal was kommt, sie werden an meiner Seite für unsere Sache kämpfen. [Gezeichnet Varran de Verestra, 22 Place Malesherbes, Paris 17ème]

Tja. Man fragt sich, mit was für abenteuerlichen Studien sich der junge Mann in seinem Stübchen die Zeit vertrieben hat. Was sollte Marschall Pétain mit einem so ungenauen Hinweis anfangen? Wo war sie denn, die angebliche Verschwörung? Kümmerten sich denn um dieses Phantasiegespinst nicht bereits die Nazis, und war deren Einmarsch in Frankreich etwa nicht die wahre Katastrophe? Und wo waren die „hundert Mann“, die nur auf einen „Befehl“ warteten? Erwartungsgemäß wurde die Sache zwar polizeilich geprüft, aber nicht weiter ernst genommen. Mit einer gehörigen Portion Wohlwollen könnte man es so interpretieren, dass hier ein Träumer und Ideen-Abenteurer die ganze Inbrunst seiner Jugend aufbietet, um mit einer völlig aus den Fugen geratenen Realität fertig zu werden.

Im Mai 1941 gründet Pierre Plantard eine Phantomgruppe namens Rénovation Nationale Française. Dieser Vorgang ist das eigentliche Thema der genannten Polizeiakte Ga P7 vom 9. Mai 1941. Dort ist wiederum festgehalten, dass Plantard sich zu diesem Zeitpunkt „Varran de Verestra“ nennt. Im Bericht ist vermerkt, Plantard sei Junggeselle und bezeichne sich als Journalist, werde aber gänzlich von seiner Mutter ausgehalten, die nach dem Unfalltod ihres Mannes eine Rente bezieht; die Jahresmiete der gemeinsamen Wohnung von Mutter und Sohn – zwei Mägdekammern im sechsten Stock – betrage 1600 Francs. (Dramatische Kluft zwischen beengten Verhältnissen und kolossalen Ambitionen.) Plantard beschreibe sich als katholisch, antisemitisch und anti-freimaurerisch; sein Ziel sei „die Reinigung und Erneuerung Frankreichs“. (Mit seinem verbalen Engagement gegen Außenseiter versucht er sich, wenn auch vergeblich, bei den herrschenden Mächten anzubiedern.) Die polizeiliche Zusammenfassung zu seiner Person lautet: „Plantard, der sich mit Beziehungen zu zahlreichen Politikern brüstet, ist offenbar einer dieser verschrobenen, anmaßenden jungen Männer, die sich wichtig machen wollen, indem sie mehr oder weniger fiktive Gruppierungen betreiben; sie wollen die Regierung auf sich aufmerksam machen, indem sie das verstärkte Interesse ausnutzen, das man jungen Menschen neuerdings entgegenbringt. Plantards Privatleben gab keinen Anlass zu Bemerkungen. Er ist nicht vorbestraft.“

Paris unter den Nazis bietet für einen patriotischen jungen Mann nicht gerade ein breites Spektrum an politischen Möglichkeiten, es sei denn, er schlüge sich ganz auf die Seite der Marionettenregierung oder schlösse sich dem bewaffneten Widerstand an. Aber das war wohl seine Sache nicht, und zumindest ähnelte sein Feindbild dem der Besatzer, sprich Nazis. Er kämpft, zumindest verbal, gegen „Juden“ und „Freimaurer“, oder was er darunter versteht.

Die Art und Weise, in der Plantard 1941 seine Phantomgesellschaft Rénovation Nationale Française bei der Obrigkeit präsentiert, ist hochinteressant, weil sie bereits das gleiche schrullige Muster einer vorgespiegelten weitverzweigten Organisation aufweist wie seine späteren wechselhaften Konstrukte der Prieuré de Sion. Für die Polizei ist das Fehlen einer konkreten Organisation noch mühelos zu erkennen; später erwirbt er sich größeres Geschick als Illusionist. Auch die sonderbare „Methode“, große nationale Ziele, deren Verwirklichung sowieso nicht aus dem Hinterzimmer herbeigeführt werden kann, hinter einer vorgeschobenen „harmlosen“ Zielsetzung zu verbergen – als ob es bei ihm etwas zu verbergen gäbe –, ist im Ansatz bereits vorhanden. Diese Verfahrensweise hat er echten „esoterischen“ [für Eingeweihte vorbehaltenen] Gesellschaften abgeguckt, die der Öffentlichkeit manchmal ein durchaus reelles „exoterisches“ [allgemein verständliches] Ziel wie z.B. ein soziales Engagement präsentieren. Um sich nach dem französischen Vereinsgesetz registrieren zu lassen, legt Plantard bei der Polizei eine Satzung vor, in der als Ziel angegeben ist, „junge Menschen zusammenzuführen und ein gesundes Bildungs- und Pionier-Ideal für sie zu etablieren, das unter dem Namen Action Sociocratique bekannt werden soll.“ (Soziokratie wäre nach heutigem Verständnis eine Lenkungs- und Organisationsmethode, die anstelle einer Hierarchie vorzugsweise auf partnerschaftliche Machtstrukturen setzt, die auf dem Prinzip des Einverständnisses beruhen. Was Plantard darunter verstand, bleibt im Dunkeln. Das Wort an sich könnte auch als Herrschaft der Gemeinschaft oder des Volkskörpers interpretiert werden; das hätten sich die Nazis durchaus gefallen lassen.)

Man kann das alles nicht richtig ernst nehmen. Es liefert aber wertvolle Hinweise, wenn man sich in das Denksystem dieses sonderbaren Mannes hineinversetzen möchte. Um das „soziokratische“ Bildungs- und Pionier-Ideal zu verwirklichen, soll der neu gegründete Verein „Studiengruppen, Vorträge und Veranstaltungen jeder Art, sportliche Zusammenkünfte und Jugendlager, Sporthallen, Freizeitaktivitäten, Kunstereignisse sowie Filmvorführungen organisieren“. Man muss sich vorstellen, in Europa tobt der Zweite Weltkrieg, die Nazis begehen Völkermord, und Pierre Plantard plant in seiner Mägdekammer bei Mutti im sechsten Stock all diese schönen Veranstaltungen. Er hält einfach seine eigene Traumwelt aufrecht, um nicht durchzudrehen in einer Situation, die ihm kein angemessenes Betätigungsfeld zu gewähren scheint. Er arbeitet eine Satzung für einen Verein mit 3245 Mitgliedern aus und will bereits den Anschein erwecken, der Verein sei derart stark, kann aber in Wirklichkeit nur vier Mitglieder aus seinem Bekanntenkreis angeben, die den „Vorstand“ bilden. Laut Plantard will die Vereinsleitung in der Hauptstadt eines jeden Départements eine Niederlassung gründen und überall örtliche Gruppen bilden. In der Satzung ist die ganze landesweite Vereinsstruktur der Rénovation Nationale Française bis in die äußersten Zweige bereits sorgfältig ausgearbeitet, mitsamt allen Titeln und hierarchischen Strukturen. Die Polizei hingegen kommt zu dem Schluss, dass die Rénovation Nationale Française eine bloße Phantomgruppe und ein Phantasiegespinst von Monsieur Plantard ist. Das „Büro“ des Vereins befinde sich bei ihm zu Hause, jedoch habe bislang keine einzige Sitzung in seiner Wohnung stattgefunden. „Wie es aussieht, ist dieser Verein zum Fehlschlag verurteilt“, schreibt der Beamte trocken.

Die Polizeiakte enthält überdies noch die Andeutung einer rassistischen Intrige: „Man sollte noch anmerken, dass ein Mitglied dieses Komitees, Madame Grubius, die Tochter der Concierge (Hausmeisterin) von Place Malesherbes Nr. 22 ist, wo sich die an einen Juden namens Shapiro vermieteten Räumlichkeiten befinden, die Plantard als Hauptsitz seines Vereins zu benutzen wünscht; er behauptet, hierfür die erforderliche Genehmigung der deutschen Behörden zu haben. Da Plantard diese Genehmigung bislang nicht hat vorlegen können, sind die Räume nicht für seine Zwecke übernommen worden.“ Den Rest kann man sich ungefähr denken. Gehässigkeiten und Anmaßungen dieser Art sind der eigentliche Brennstoff an der Basis eines faschistischen Regimes, und mit seiner erklärten antijüdischen Gesinnung machte der junge Plantard in dieser Hinsicht keine Ausnahme.

 

 

Alpha Galates und Vaincre

In den Jahren 1942–43 fungierte Pierre Plantard sodann als Galionsfigur einer esoterischen, nationalistischen Bewegung namens Alpha Galates, die mit einer Zeitschrift namens „Vaincre“ in Erscheinung trat.

Der Name „Alpha Galates“ spielt auf die Galater an, die Nachfahren der 20.000 keltischen Söldner vom Stamm der Volcae, die sich um 275 v. Chr. in Inneranatolien niederließen, also in der heutigen Türkei. Diese keltischen „Gallier“ vermischten sich offenbar mit den dort einheimischen Phrygiern, aber noch im Jahr 400 n. Chr. bezeugte Kirchenvater Hieronymus die Existenz keltisch sprechender Volksgruppen in der Gegend, die sich Galatai nannten. Römische Autoren hingegen bezeichneten sie ungenau als „Gallo-Griechen“. Vaincre versuchte an die keltische Kultur und ans Druidentum anzuknüpfen, so wie deutsche Nationalisten sich gern auf die alten Germanen beriefen. (Das Verb vaincre bedeutet „besiegen, bezwingen, überwinden“.)

Ob Pierre Plantard die Alpha Galates wirklich selbst gegründet hat oder ob er nur von Hintermännern vorgeschoben wurde, lässt sich anhand der verfügbaren, oft widersprüchlichen Quellen nicht zufriedenstellend klären. Nach Auffassung des esoterisch geprägten Autors Robert Richardson (a.a.O.) soll Alpha Galates bereits 1934 bestanden und seit Ende der 30er Jahre Pierre Plantard als nominelles Oberhaupt eingesetzt haben. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Rückversetzung von Alpha Galates in die 30er Jahre jedoch um eine weitere schamlose Flunkerei von Pierre Plantard. Denn nach Angaben von Massimo Introvigne vom „Center of Studies on New Religions“ (CESNUR) in Italien hat Pierre Plantard 1942 die ehrgeizige Organisation Alpha Galates selbst gegründet und eine sehr komplexe Satzung für sie ausgearbeitet, deren Datum er ganz unverfroren auf 1937 vorverlegte. (Das ist der numerologische Tick Plantards, nämlich eine Anspielung auf das Jahr 1793, und sein perfider Trick der Irreführung durch Fehldatierung, eine Methode, mit der man gewissenhafte Rechercheure scharenweise beschäftigt hält und an den Rand des Wahnsinns treibt.) Neben den üblichen monarchistischen und rechtsradikalen Ideen errichtete er für dieses neue Verwirrspiel ein quasi-freimaurerisches, aber sicherlich hohles Einweihungssystem in zwölf Graden, dessen Gipfel die „Druidische Majestät“ bildete, ein Titel, der einer einzigen Person vorbehalten war – nämlich Pierre Plantard selbst. Man sieht, dass er den Mund reichlich voll nahm.

Wie kam er darauf? Seine Mutter, ihres Zeichens Concierge und Freelance-Köchin, war mit ihm inzwischen an die Adresse 10 Rue Lebouteux umgezogen, wo er neue Freunde fand, darunter zwei bekannte Rundfunkschauspieler namens Jacques Thereau und Suzanne Libre sowie ein Mann namens Jules-Joseph-Alfred Tillier (1896-1980) – ein Chefbuchhalter einer Rüstungsfirma. Tillier wiederum war mit Paul Le Cour (1861-1954) befreundet, dessen 1937 erschienenes Buch L’Ère du Verseau („Das Zeitalter des Wassermanns“) unter anderem an die Tradition einer kleinen, ausgeflippten katholischen Bewegung namens Hiéron du Val d’Or anknüpfte, die eine Art Theokratie oder Gottkönigtum für die europäischen Nationen angestrebt hatte.

Plantard arbeitete überdies seit einiger Zeit als Küster der Kirche Saint-Louis d'Antin. Der dortige Priester François Ducaud-Bourget (1897–1984), dessen Wohlwollen Plantard Ende der 30er Jahre die Leitung der oben genannten katholischen Jugendgruppe zu verdanken hatte, veranstaltete Messen für einen Kreis rechtsgerichteter Intellektueller, zu dem der Philosoph Louis Le Fur (1870-1943), der Orientalist Graf Maurice de Moncharville (1860-1943) und der bereits genannte Paul Le Cour zählten.

All diese Namen sind für den deutschen Leser völlig nichtssagend und auch ganz allgemein für praktisch denkende Menschen bedeutungslos. In einem Kontext französischer Pseudo-Esoterik dienen sie vor allem der Mystifizierung des Umkreises und der Herleitung; da wird verbissen und wichtigtuerisch versucht, die Weiterleitung und Fortzeugung ausgefallener Gedanken in einer Art Ideen-Stammbaum von Denkern und Möchtegern-Koryphäen nachzuweisen, um deren geheimnisvollen Einfluss auf den Gang der Geschichte zu bekräftigen. Es ist wahr, dass Ideen maßgeblich den Gang der Geschichte beeinflussen, aber wenn sich nicht irgendwo und irgendwie ein klarer Bezug zu den wirklichen Akteuren der Politik herstellen lässt, dann waren es nur Spinnereien im Hinterstübchen.

Jedenfalls benutzte Plantard als Chefredakteur der antisemitischen, antifreimaurerischen und katzbuckelnd Vichy-freundlichen Zeitschrift Vaincre, deren erste Ausgabe am 21. September 1942 erschien, nun das aristokratisch angehauchte Pseudonym „Pierre de France“ oder „Pierre de France de Plantard“. Zwar erschienen in Vaincre unter Plantards Federführung einige Artikel, die mit den oben erwähnten Namen Le Fur und Moncharville unterzeichnet waren, aber die grundsätzlich lügenhafte Vorgehensweise von Pierre Plantard lässt zumindest den Verdacht aufkommen, dass er diese Namen mit oder ohne Erlaubnis unter seine eigenen Schriften setzte. Das gilt sicherlich für einen Vaincre-Beitrag, der Camille Savoire (1869–1951) zugeschrieben wurde, einem prominenten französischen Freimaurer mit engen Verbindungen zur Résistance. Plantard und sein mehr oder weniger vorgetäuschter Zirkel traten damals ausgesprochen antifreimaurerisch und deutschfreundlich in Erscheinung; Savoire hätte wohl schwerlich für Vaincre geschrieben. Aber ein anderes interessantes Detail hatten Plantard, Le Cour, Tillier und Savoire zu jener Zeit gemeinsam: sie lasen mit Interesse die Schriften des französischen Zweiges von AMORC, der 1915 gegründeten amerikanischen Rosenkreuzer-Organisation. Zwar war Plantard selbst nie ein Rosenkreuzer, aber er freundete sich später mit Raymond Bernard an – der in den 70er Jahren schließlich die führende Figur von AMORC in Frankreich war, bis er aus dieser Organisation austrat. Dieser Aspekt des plantardschen Werdegangs tritt später noch einmal zutage, als er seine fiktive Liste von Großmeistern der Prieuré de Sion ganz nach dem Muster der älteren, symbolisch gemeinten Vorväterlisten von AMORC ausarbeitet.

Plantards Kontakte zu Anfang der 40er Jahre liefern jedenfalls eine plausible Erklärung für den esoterischen Stil und die vorgespiegelte hierarchische Struktur von Alpha Galates. Die 1942–43 in Vaincre veröffentlichten Artikel befassten sich recht oberflächlich mit esoterischen Motiven wie Rittertum, Atlantis, verborgenen tibetanischen Städten und keltischer Mythologie – Themen, für die sich typischerweise Theosophen interessiert hätten. Einige Artikel waren auch antisemitisch eingefärbt, und ein äußerst verschlüsselter, von merkwürdiger Symbolik und okkulten Andeutungen strotzender Artikel namens „Hier ist die Wahrheit“ in Vaincre Nr. 5, der sich vornehmlich gegen Freimaurer zu richten scheint, kann von normalen Lesern eigentlich nur als psychotisch eingestuft werden, oder als völliger Quatsch. – Alpha Galates versuchte dieses Journal als Forum einer relativ großen, geschlossenen Gruppierung junger Menschen darzustellen.

In der dritten Nummer von Vaincre, die der Verteidigung gegen eine üble Attacke vonseiten des Nazi-Hetzblattes Au pilori („An den Pranger“) gewidmet war, wurden am 21. November 1942 die Ziele von Alpha Galates wie folgt definiert:

1.   Die Einheit Frankreichs innerhalb seiner geographischen Grenzen und die Beseitigung der Demarkationslinie zwischen den von Deutschland besetzten Zonen und jenen unter der Kontrolle von Vichy;

2.   die Mobilisierung aller französischen Energien und Mittel für die Verteidigung der Nation, insbesondere ein Appell an die Jugend, einen Pflicht-Wehrdienst zu leisten;

3.   die Schaffung einer „neuen westlichen Ordnung“, eines „jungen europäischen Rittertums“, dessen Hauptgedanke „Solidarität“ sein solle. Diese Organisation, genannt „Solidarität“, müsste „das erste Stadium der Vereinigten Staaten des Westens“ darstellen. (Vaincre Nr. 3, 21.11.1942; so zitiert von Michael Baigent, Richard Leigh und Henry Lincoln, Das Vermächtnis des Messias, Bastei-Lübbe-Taschenbuch, 3. Auflage 1995, S. 424f.; engl. Originaltitel: The Messianic Legacy, 1986.)

Insgesamt erschienen von Vaincre nur sechs Ausgaben, aber sie verschafften Plantard eine gewisse Anerkennung; immerhin behielt ihn die Polizei im Visier. Noch im Februar 1945 wurde Alpha Galates mit seiner wechselhaften Mitgliedschaft von höchstens 50 Personen polizeilich untersucht, aber die Ordnungshüter kamen zu dem Schluss, dieser Verein sei nicht ernst zu nehmen. 1947 löste sich Alpha Galates endgültig auf.

Die Frage, ob die Gestapo Pierre Plantard von Oktober 1943 bis Februar 1944 wegen Unterstützung der Résistance im Gefängnis Fresnes bei Paris internierte, hat gelegentlich Rätsel aufgegeben. Seine nachweislichen Aktivitäten erwecken eher den Anschein einer wirren, Vichy-freundlichen Kollaboration. Doch im Hintergrund stand zweifellos ein leidenschaftlicher, hinter Symbolik, Mythologie und Irreführungen versteckter Patriotismus. In einem Bericht der Pariser Polizeipräfektur vom 13. Februar 1945 (wiederum Teil der Akte Ga P7) ist festgehalten, dass die französische Polizei in Paris auf Betreiben der deutschen Besatzer am 24. Oktober 1942 eine Ermittlung gegen Pierre Plantard anstrengte, weil Plantard um eine Genehmigung für die offizielle Gründung des Vereins Alpha Galates angesucht hatte, und dass Plantards „mehrfache Anträge, vielleicht auch seine Einstellung zur Besatzungsmacht ihm 4 Monate im Gefängnis Fresnes einbrachten“. In demselben Polizeibericht ist auch vermerkt, dass Plantard aus der Sicht der französischen Behörden bislang nicht vorbestraft ist. Plantards Mutter soll bestätigt haben, dass ihr Sohn von der Gestapo, nicht von der französischen Polizei verhaftet wurde. Ende der 70er Jahre legte Plantard den Autoren des Buches Der Heilige Gral und seine Erben eine auf den 11. Mai 1955 datierte eidesstattliche Erklärung eines Mannes namens Poirier Murat vor, in der bestätigt wird, dass Plantard von Oktober 1943 bis Februar 1944 von der Gestapo im Gefängnis Fresnes interniert gewesen ist. In Poirier Murats Firma wurden 1942–43 die sechs Ausgaben von Vaincre gedruckt.

Damit sollte die Frage nach Plantards Gestapo-Internierung hinreichend geklärt sein – unter der Voraussetzung, dass die im Internet wiedergegebene Akte Ga P7 und die eidesstattliche Erklärung des Monsieur Murat nicht gefälscht sind. (Falls Sie sich eines Tages die Mühe machen, die Biographie eines ehrlichen Mannes zu schreiben, werden Sie ständig mit dem Aussortieren der Fakten zu kämpfen haben. Aber wenn Sie sich die Biographie eines Lügenbarons vornehmen, werden Sie unter dem Misthaufen der vorgespiegelten Tatsachen kaum noch Luft kriegen.)

 

 

Der phantasievolle Schwindler schlägt sich durch

Der Krieg war aus, und Jahrzehnte vergingen, bevor Pierre Plantard zu seinem zweifelhaften Ruhm als Kernfigur des Mythos um die „Prieuré de Sion“ gelangte. Wir sehen hier – soweit wir ihn überhaupt sehen – einen jungen Mann, dessen Lebensweise sich jeder üblichen Beschreibung entzieht. 1947 gründete er eine „Lateinische Akademie“, jedoch die einzigen Mitglieder waren er selbst und seine Mutter. 1951, nachdem er eine zehn Jahre jüngere Dame namens Anne Léa Hisler (1930–1971) geheiratet hatte, zog er aus Paris in das billigere Städtchen Annemasse in der Region Haute-Savoie nahe dem Genfer See um. In einem Polizeibericht vom 4. Mai 1954 ist eine etwa dreijährige Tochter erwähnt.

Aber wovon hat er all die Jahre gelebt? Die frühen Polizeiberichte gehen davon aus, dass er eigentlich nur von seiner Mutter ausgehalten wurde. Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre soll er als Küster (Kirchendiener) beschäftigt gewesen sein; während der Phase in Annemasse heißt es mal „technischer Zeichner“; und in den 60er Jahren bot er unter dem Pseudonym „Chyren“ seine Dienste als Hellseher an. Seiner eigentlichen Berufung entspricht es wohl eher, dass er an seinem neuen Wohnort Ende 1953 wegen Betrugs und Unterschlagung für sechs Monate ins Kittchen kam, weil er zu unverschämten Preisen den Verkauf von Graden in esoterischen Ordensgesellschaften betrieben hatte. Aber hallo! Über diese Geschichte hätten wir gern mehr erfahren. Was für Ordensgesellschaften? Man muss schon reichlich Phantasie aufbringen und ganz gehörig die Werbetrommel rühren, um seinen Mitmenschen teure Ordensgrade in esoterischen Gesellschaften anzudrehen, egal ob diese Gesellschaften wirklich existieren oder nicht. Was hat er den Leuten verkauft? Einen Titel als „Heiliger Laternenanzünder im Siebenten Häuschen“ oder „Adepten des blauen Lichts“, so wie andere Leute falsche Adelstitel verkaufen? Das wäre doch lustig.

 

 

Die Gründung der Prieuré de Sion

Für seine Wuchergeschäfte mit fiktiven esoterischen Titeln kam Plantard also 1953 in den Knast, aber er ließ sich nicht entmutigen. Jetzt kommt auf eine absolut nichtssagende, inhaltslose Weise die Erfindung, die allmählich zu seinem größten Coup ausartete und ihm weit über den Kopf wachsen sollte, obwohl es bloß ein alberner Scherz war. Am 7. Mai 1956 gründete er per Eintragung im Vereinsregister von Annemasse mit nur vier ausgewiesenen Mitgliedern (Pierre Plantard, André Bonhomme, Jean Delaval und Armand Defago), jedoch gewohnheitsmäßig mit einer großen vorgetäuschten Struktur, einen weiteren „esoterischen und politischen“ Orden unter dem Namen „Prieuré de Sion – C.I.R.C.U.I.T.“. André Bonhomme (alias „Stanis Bellas“) wurde als Präsident, Pierre Plantard als Generalsekretär angegeben. Pierre Plantard hat nachher behauptet und viele Male angedeutet oder andeuten lassen, die Vorgeschichte seines „Ordens“ reiche weit durch die Jahrhunderte zurück, obwohl diese Behauptung jeder historischen Grundlage entbehrt.

Betrachten wir kurz den großspurigen Namen des Vereins, um da nichts ungeklärt zu lassen. Das „Priorat von Zion“? Ein „Priorat“ (Prieuré) ist definitionsgemäß ein kleineres, von einer Abtei abhängiges Kloster unter Leitung eines Priors. Plantard hat jedoch weder ein Kloster gegründet noch seinen Verein einer Abtei unterstellt, und natürlich war weit und breit kein Prior zugegen. Das wäre schon mal die erste Irreführung. Die zweite Irreführung, die uns der pseudoesoterische Kasper hier andreht, ist ganz alberner Art. Obwohl es später einen Wust an Spekulationen gegeben hat, „Zion“ (Sion) bezöge sich auf den Zionsberg im Süden Jerusalems, meinte Plantard schlicht und einfach den Mont Sion in der Nähe seines Wohnorts Annemasse, einen Hügel, der gern von Touristen besucht wird. Dort hoffte der Verein sich ein Gebäude kaufen zu können, das als eine Art spirituelles Zentrum gedient hätte – wenn man’s glaubt.

Der zweite Teil des Vereinsnamens, „C.I.R.C.U.I.T.“, stand für Chevalerie d’Institution et Règles Catholiques d’Union Indépendante et Traditionaliste (Ritterschaft der katholischen Institution und Regeln der unabhängigen und traditionalistischen Union), was natürlich kompletter Blödsinn ist. Man könnte bestenfalls mutmaßen, die Anspielung auf katholischen Traditionalismus habe etwas mit Plantards priesterlichem Vorgesetzten François Ducaud-Bourget Anfang der 40er Jahre zu tun, denn Ducaud-Bourget war ein streitbarer traditionalistischer Katholik.

Die Abkürzung „C.I.R.C.U.I.T.“ war gleichzeitig der Titel eines belanglosen Vereinsblättchens. Die darin verfolgte Politik beschränkte sich im Wesentlichen darauf, billige Wohnungen für die arbeitende Bevölkerung von Annemasse zu fordern und die lokalen Bauunternehmer zu kritisieren; der Verein unterstützte bei den Kommunalwahlen den Oppositionskandidaten. Die „esoterischen“ Ziele gemäß der Satzung waren, wie üblich, sehr anspruchsvoll; es ging um nichts Geringeres als die Wiederherstellung des mittelalterlichen Rittertums. Die Satzung postulierte für die „Prieuré de Sion“ ganze 9.841 Mitglieder in einer aus 9 Graden bestehenden Ordenshierarchie. Da ist auch gleich von „729 Provinzen, 27 Komtureien und einer als Kyria bezeichneten Arche“ die Rede. Die „Arche“ als Spitze der Pyramide sollte in höchster Position einen Steuermann (Nautonier), darunter drei Seneschalle (Sénéchaux) und neun Konnetabeln (Connétables) umfassen. In diesem Stil geht es recht phantasievoll weiter, über Komture, Ritter, Schildknappen, Helden und Kreuzfahrer bis hinab zu den Novizen, wobei in absteigender Ordnung zu jeder Stufe dreimal so viele Mitglieder gehören wie zur nächsthöheren. Papier ist geduldig.

Wenn man heute in zahlreichen Internet-Dokumenten in vielen Sprachen der Erde nachlesen kann: „Am 7. Mai 1956 hinterlegten sie bei der Unterpräfektur von Saint-Julien-en-Genevois die Satzung und die Eintragungsunterlagen der Prieuré de Sion, entsprechend dem französischen Vereinsgesetz von 1901, das allen Gesellschaften vorschrieb, sich behördlich registrieren zu lassen,“ dann klingt das schon beinahe biblisch und auf jeden Fall irgendwie nachgebetet, obwohl der Vorgang an Banalität kaum zu überbieten ist. Mittlerweile haben wir es hier mit einer inhaltslosen Ersatzreligion zu tun, die mit pompöser Legendensprache wohl ans Lukasevangelium anknüpfen will. (Sie erinnern sich wahrscheinlich: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt.“ Faschisten und Monarchisten nehmen den vertrauten Stil der Heiligen Schrift gern für ihre düsteren Zwecke zu Hilfe.)

Wie konnte sich diese plantardsche Kreation derart verselbständigen und zum weltweiten Kult werden? Dazu eine vage Idee: Als sich die Medien darauf stürzten, war die schrullige Bezeichnung „Priorat von Zion“ sicher ganz brauchbar, um auf irrationalen Denkkanälen die Herausbildung der modernen Kreuzfahrer-Mentalität zu unterstützen. Denn „Priorat“ klingt katholisch, und „Zion“ erinnert unweigerlich an Israel; was wäre das dann, ein geheimer, „judäochristlicher“ Machtfaktor? Das scheint absurd, aber es entspricht der mutwilligen Irrationalität des Medienbetriebs, der Tendenz zum Ausmalen und Aufwühlen von Konfliktstoffen, die es sonst gar nicht gäbe. – Aber wir greifen vor.

Irgendwann nach Oktober 1956 löste sich der kleine Verein „Prieuré de Sion“ in seiner trivialen, konkreten Version als ritterlicher Hinterstübchen-Treffpunkt für Mietpreisgeschädigte in Annemasse wieder auf. Pierre Plantard scheint um diese Zeit in ernste Schwierigkeiten geraten zu sein, die jedoch aufgrund des französischen Datenschutzes nicht nachgewiesen und daher hier auch nicht näher beschrieben werden können. Bekannt ist jedoch, dass sich seine erste Frau, Anne Léa Hisler, um diese Zeit von ihm scheiden ließ.

Seltsam ist vor diesem Hintergrund, dass 1973 – sechzehn Jahre später – in der Zeitschrift Le Charivari, Nr. 18, eine skurrile, unfreiwillig komische Lobrede auf Pierre Plantard erschien, die angeblich von Anne Léa Hisler verfasst worden war. Madame Hisler war zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre tot. In der üblichen Prieuré-Manier kann der Artikel natürlich von Pierre Plantard selbst oder von einem seiner Mitstreiter verfasst worden sein. Man liest mit Staunen:

„Vergessen wir nicht, dass dieser Psychologe mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten befreundet war wie dem Grafen Israël Monti, einem der Brüder der heiligen Feme, Gabriel Trarieux d’Egmont, einem der dreizehn Mitglieder der Rosenkreuzer, Paul Lecour, der über Atlantis philosophierte, ... dem Abbé Hoffet, Mitarbeiter des Dokumentationszentrums des Vatikans, Th. Moreux, Direktor des Konservatoriums von Bourges, und vielen anderen. Erinnern wir uns ferner daran, dass er während der deutschen Besatzungszeit verhaftet und von der Gestapo gefoltert wurde und viele Monate als politischer Gefangener interniert war. Als Doktor der Wissenschaften lernte er den Wert von Geheiminformationen kennen, was dazu führte, dass ihm von zahlreichen hermetischen Gesellschaften der Doktortitel honoris causa verliehen wurde. All diese Erfahrungen und Prüfungen haben ihn zu einem einzigartigen Menschen geformt, einem Mystiker des Friedens, einem Apostel der Freiheit und einem Asketen, dessen Ideal es ist, dem Wohlergehen der Menschheit zu dienen. Kann es da noch überraschen, dass er eine der grauen Eminenzen wurde, bei denen sich die Großen dieser Welt Rat holen? Im Jahre 1947 folgte er einer Einladung der Schweizer Regierung und lebte längere Zeit in der Nähe des Genfer Sees, wo zahlreiche chargés de mission und Delegierte aus der ganzen Welt residieren.“ (Le Charivari Nr. 18, 1973, so zitiert von Michael Baigent, Richard Leigh und Henry Lincoln, Der Heilige Gral und seine Erben, Bastei-Lübbe-Taschenbuch Band 60182, Bergisch Gladbach 1984, 12. Auflage April 2004, S. 209f.; engl. Originaltitel: The Holy Blood and the Holy Grail, 1982)

Da wird der Küster zum Psychologen und der Hochstapler zum illustren Freund einer schillernden Parade schräger Vögel. Das ist doch wohl eher zum Schreien! Man könnte ein paar Wochen kostbare Zeit auf frustrierende Recherchen verwenden, um all diesen Namen und großspurigen Behauptungen auf den Grund zu gehen. Wirkliches Engagement wird hier jedoch bloß persifliert, echtes geistiges Niveau im Grunde nur verspottet. Wie sagte schon Friedrich Schiller: „Er (der Dilettant) nimmt das Dunkle für das Tiefe, das Wilde für das Kräftige, das Unbestimmte für das Unendliche, das Sinnlose für das Übersinnliche.“

Plantard jedoch, in der Kunst des Lügens wahrlich kein Dilettant, sondern ein echter „Großmeister“, hat es immer wieder geschafft, sich effektvoll darzustellen und gewissenhafte Rechercheure in einen Wald voller Absurditäten zu locken. Und die Aura des Geheimnisvollen beginnt noch greller zu leuchten, wenn ein paar Schlaumeier darauf hinweisen, dass Nostradamus tatsächlich nicht „Hitler“, sondern „Hisler“ vorausgesagt hatte. (Hm, es muss wohl ein kleiner Hörfehler gewesen sein ... kann ja mal vorkommen, wenn man Jahrhunderte weit in die Zukunft lauscht.)

Ende 1957 hielt Pierre Plantard es für ratsam, die Koffer zu packen und wieder nach Paris zu gehen. Dort scheint er sich während des Militäraufstands in Algerien für General de Gaulle stark gemacht zu haben, und zwar gemeinsam mit André Malraux und anderen als Mitorganisator der sogenannten Comités de Salut Public („Komitees für öffentliche Sicherheit“). Der konkrete Umfang dieses Engagements ist schwer festzustellen; es kann aber nur eine kurze Episode gewesen sein, denn schon bald war de Gaulle in den Elysée-Palast zurückgekehrt, was wohl der Sinn der Übung war. Plantard erhielt einen Dankesbrief von de Gaulle, datiert auf den 29. Juli 1958 (ähnliche Briefe gingen vermutlich an Tausende von Einzelpersonen und Vereinigungen). Nach Angaben in dem Buch Der Heilige Gral und seine Erben bat de Gaulle fünf Tage später „Monsieur Plantard in einem zweiten Schreiben, die Komitees, die ja nun ihren Zweck erfüllt hätten, aufzulösen, was auch umgehend veranlasst wurde“ (a.a.O., S. 211).

Anfang der 60er Jahre verdingte sich Plantard unter dem Namen „Chyren“ als Hellseher, während die Phantasien um die Prieuré de Sion jetzt mit bruchstückhaft hinterlegten Informationspäckchen in Zeitschriften, Bibliotheken und Büchern herangezüchtet wurden. Etwa 1964 kam der Prieuré-Schabernack mithilfe der kuriosen Geschichte eines Dorfpriesters in der südwestfranzösischen Landschaft Languedoc ins Rollen; in dieser Version sollte die Story sich schließlich zur Vorlage für den Da Vinci Code weiterentwickeln.

 

 

Rennes-le-Château und Bérenger Saunière

Das winzige, aber mittlerweile weltberühmte Kaff auf einer Hügelkuppe im Vorgebirge der östlichen Pyrenäen heißt Rennes-le-Château, und der Dorfpriester um die vorletzte Jahrhundertwende hieß Bérenger Saunière (1852-1917).

Rennes-le-Château bietet eine sehr romantische, geschichtsträchtige Kulisse, und 1897 hatte der Abbé Saunière dort angeblich einen Schatz entdeckt. Manche behaupteten, der Schatz habe nicht aus Gold oder uralten Artefakten bestanden, sondern aus Geheimdokumenten, die es Saunière erlaubten, in hochrangige esoterische und politische Kreise einzutreten und unglaublich reich zu werden. Die Saunière-Story ist in eingehenden historischen Studien mehrfach widerlegt worden und man muss sie nicht über Gebühr aufwärmen. Der Dorfpriester wurde nicht zum Millionär, wenn auch zeitweise wohlhabend genug, um Grundbesitz zu erwerben und sich in Rennes-le-Château eine Villa und einen Bibliotheksturm zu bauen. Seinen auffälligen Wohlstand hatte er indes einer unlauteren Geschäftspraxis zu verdanken, nämlich dem unmäßigen Verkauf von Messen; anders gesagt, er ließ sich von Geldgebern aus weiter Ferne dafür bezahlen, dass er sie in Gebete und Kulthandlungen einbezöge. Wie aus seinen eigenen peniblen Aufzeichnungen hervorgeht, ließ er sich in den Jahren von 1896 bis 1915 Spendenbeträge für mindestens einhunderttausend Messen zahlen, was in der Blütezeit dieses Schwindels auf fünf- oder sechstausend Messen pro Jahr hinauslief. Er musste also schon täglich einen ganzen Schwung Anfragen dieser Art in ein und dieselbe Messe einbeziehen, falls er die bezahlten Kulthandlungen überhaupt wirklich ausgeführt hat. Insofern war dieser in Saus und Braus lebende Priester zumindest ein Geistesverwandter unseres modernen Monsieur Plantard. Die Beschaffung der geistlichen Aufträge erfolgte durch eine weitreichende Korrespondenz Saunières und Anzeigen in frommen Blättchen in ganz Westeuropa. Da wurden Hunderte von Wohltätern immer wieder angesprochen. Unter anderem soll er von dem Geld auch seine Pfarrkinder zu üppigen Banketten eingeladen, sich in jeder Hinsicht freigebig gezeigt und sozusagen den Lebensstil eines mittelalterlichen Herrschers gepflegt haben, der über eine Bergfestung gebietet. Andererseits hat das Geldinstitut Crédit Foncier de France das Vermögen des Priesters 1913 auf lumpige 18.000 Francs eingeschätzt, als Saunière dringend Geld brauchte und um ein Darlehen bat. Sagenhaft reich kann er also unterm Strich nicht gewesen sein.

Nach dem Tode Bérenger Saunières wurde die platte Legende allmählich mit mysteriösen Anekdoten ausgeschmückt, insbesondere durch den örtlichen Restaurantbesitzer Noël Corbu (1912–1968), einen zeitweiligen Krimiautor, der 1946 Saunières „Villa Bethania“ kaufte und sie 1953–55 zu einem Restaurant und Hotel umbaute. Er hatte naturgemäß ein Interesse daran, für Rennes-le-Château die Werbetrommel zu rühren. Anfang der 60er Jahre traf sich Pierre Plantard mit Noël Corbu und wandelte die Saunière-Story wesentlich ab, um seine Hauptbotschaft vom Thronanspruch der Merowinger unter die Leute zu bringen. Das 751 von den Karolingern abgesetzte Geschlecht der Merowinger könne laut Plantard weiterhin Anspruch auf den französischen Thron erheben. Eigentlich galten die Merowinger als ausgestorben; durch geschickte Fälschungen wollten Plantard und seine lustigen Mitstreiter den Eindruck erwecken, es gebe Nachfahren der Merowinger, insbesondere in der Person Pierre Plantards selbst, der somit legitimer Thronerbe in Frankreich wäre (mal abgesehen von der Kleinigkeit, dass die Monarchie in Frankreich abgeschafft ist). Die Prieuré de Sion wurde im Zusammenhang mit diesem Schwindel als eine uralte Geheimgesellschaft dargestellt, deren vornehmste Aufgabe es gewesen sei, die Nachfahren der Merowinger vor den Karolingern und später auch vor anderen Feinden zu schützen, um für irgendeinen künftigen, machtpolitisch günstigen Augenblick die merowingische Blutslinie fortzusetzen.

Um diese Behauptung zu stützen, wurde dem Dorfpriester nun angedichtet, er habe einst bei Renovierungsarbeiten in seiner Kirche einige hochbrisante Dokumente gefunden, alte „Pergamente“, die eine geheimnisvolle, verschlüsselte Botschaft enthielten.

 

 

Das surrealistische Münchhausen-Trio

Wie bringt man solche Thesen unter die Leute? Pierre Plantard hatte zwar die zündenden Ideen, aber den großen Schwindel konnte er nicht im Alleingang bewerkstelligen. Er inspirierte zu diesem Zweck zwei kuriose Freunde: a) den genialen Urkundenfälscher Philippe de Chérisey (1923–1985), Schriftsteller, Rundfunkhumorist und Schauspieler, und b) den Buchautor Gérard de Sède (1921–2004). Sowohl de Chérisey als auch de Sède waren Surrealisten. Diesem Trio gelang der Trick, auf Jahrzehnte hinaus die Öffentlichkeit zu narren und tendenziell die Realität einer christlich und demokratisch ausgerichteten Kultur umzustülpen. (Hoffentlich werden nicht Jahrhunderte oder Jahrtausende daraus; hoffentlich kommen Sie nicht im Jahre 4711 auf die Erde zurück und müssen feststellen, dass die Prieuré zur beherrschenden Weltreligion geworden ist. Beim Homo sapiens kann man nie wissen.)

Pierre Plantard, Philippe de Chérisey und Gérard de Sède

Plantard verfasste 1961 ein 32-seitiges, vervielfältigtes Dokument mit Kartenanhang unter dem Titel Gisors et son secret („Gisors und sein Geheimnis“) mitsamt einem Stammbaum der Familie Saint-Clair-sur-Epte, der sich später in den Dossiers secrets d’Henri Lobineau („Geheimakten von Henri Lobineau“) wiederfand, die 1967 in der Pariser Nationalbibliothek hinterlegt wurden – als ob man „geheime Akten“ in der Nationalbibliothek hinterlegen würde. Der Name „Saint Clair“ ist von Bedeutung, weil sich Plantard spätestens in den 70er Jahren irgendwie dieses vornehme Anhängsel zulegte: Pierre Plantard de Saint Clair. Der Verdacht auf eine Fälschung liegt angesichts seiner Vorgeschichte nahe. Das Original seiner Geburtsurkunde, das sich in der Bürgermeisterei des 7. Arrondissements [Bezirks] in Paris befindet und seinen Familiennamen nur als „Plantard“ sowie den Beruf seines Vaters als Kammerdiener angibt, steht jedoch im Widerspruch zu einem beglaubigten, maschinengeschriebenen standesamtlichen Auszug derselben Bürgermeisterei vom 22. August 1972, worin der Familie Plantard durch einen merkwürdigen Zusatz plötzlich der doppelte Grafentitel „Comte de Saint Clair et Comte de Rhédae“ zugeschrieben wird. Eine dritte Urkunde von 1977, ausgestellt von der Bürgermeisterei in Garenne-Colombes, gibt den Namen als „Plantard de Saint Clair“ an. Diese Widersprüche führt das Autorentrio Lincoln/Baigent/Leigh in seinem zweiten einschlägigen Buch, Das Vermächtnis des Messias, 1986 auf S. 513f. in den Anmerkungen an. Die Autoren zeigen sich nichtsdestoweniger beeindruckt, dass der Name „Plantard de Saint Clair“ tatsächlich auf den Schecks und im Pass des ausgefuchsten Gauklers erscheint und dass all diese Papiere legitim aussehen.

Die „Geheimakten“ von 1967 waren mit Hinweisen versehen, es handle sich bei „Henri Lobineau“ um das Pseudonym eines Mannes namens Leo Schidlof. Dieser aber war 1966 bereits verstorben und hatte wahrlich nichts mit der Sache zu tun; als jedoch das Autorentrio vom „Heiligen Gral“ diesen Unsinn um 1980 aufdeckte, erschien in Paris prompt eine neue Broschüre mit der Behauptung, hinter „Henri Lobineau“ stecke in Wirklichkeit ein Graf Henri de Lénoncourt; von Glaubwürdigkeit kann also bei all diesen Machenschaften keine Rede sein. Jeder Rechercheur sieht sich endlos in die Irre geführt. Gleichzeitig werden Orte und Namen beschworen, die ausgesprochen geschichtsträchtig sind, Gisors in Nordfrankreich (70 km nordwestlich von Paris) ganz ähnlich wie Rennes-le-Château; auf der Höhe der Kreuzzüge war Gisors eine Festung von entscheidender strategischer und politischer Bedeutung – genau wie Rennes-le-Château, früher Rhedae genannt, im sechsten Jahrhundert sehr viel größer und vorübergehend die nördliche Hauptstadt der Westgoten gewesen sein soll. Mit dieser Methode der Gaukelei, nämlich halb vergessene Orte von nationaler Bedeutung ins Rampenlicht zu rücken, wird dem Leser eine Fülle an spannenden Details eröffnet, sodass er viel dazulernt und „Ah“ und „Oh“ ruft, ohne dass die Kernthesen der Geschichtsklitterer jemals nachgewiesen werden.

In Plantards Dokument von 1961, Gisors et son secret, wurde jedenfalls behauptet, die Prieuré de Sion hätte während der Kreuzzüge bereits in Jerusalem existiert. Pierre Plantard wohnte damals an der Adresse 35 Avenue Victor Hugo, Paris. Nach eigenen Angaben verschickte er am 23. März 1961 Kopien dieses Dokuments an den Bibliothekar in Caen, an den Bürgermeister von Gisors und an Gérard de Sède. 1962 schrieb Gérard de Sède daraufhin sein Buch Les Templiers sont parmi nous, ou l’énigme de Gisors („Die Templer sind unter uns oder das Rätsel von Gisors“) mit ausführlichen Angaben zu Gisors. Am Ende des Buches geht ein langes Interview mit Pierre Plantard auf das Thema Gisors ein und bringt auch Hinweise auf die Prieuré de Sion.

Pierre Plantard und Philippe de Chérisey

Philippe de Chérisey fälschte für Pierre Plantard einige „uralte“ Dokumente, mit denen Plantards Abstammung vom fränkisch-merowingischen König Dagobert II. und eine 1000-jährige Vorgeschichte der Prieuré de Sion vorgespiegelt wurde. Ein Teil dieser Dokumente wurde in den 60er Jahren peu à peu in der französischen Nationalbibliothek hinterlegt, so wie man heute eine Website zu diesem Zweck benutzen würde; andere erschienen 1967 in Gérard de Sèdes Buch Le trésor maudit de Rennes-le-Château („Der verfluchte Schatz von Rennes-le-Château“).

Die plantardsche Manipulation des öffentlichen Bewusstseins ist inzwischen außer Kontrolle geraten – den ursprünglichen drei Musketieren wuchsen noch zu Lebzeiten die weltweiten Effekte ihrer Witzeleien über den Kopf, und selbst ihre späten Beteuerungen, es sei alles nur ein Schwindel gewesen, nahm ihnen dann kaum noch jemand ab.

 

 

Alfred Jarry und die ’Pataphysik

Weltanschauung und Lebensgefühl des Surrealismus spielten bei der Erschaffung des Phantasiegebildes der Prieuré eine bedeutende Rolle. Philippe de Chérisey war Anhänger der surrealistischen Bewegung und Mitglied des 1948 in Paris gegründeten Collège de ’Pataphysique. (Um Himmels willen! Jetzt haben wir etwas extrem Albernes und gleichzeitig äußerst Brisantes entdeckt. Was „’Pataphysik“ ist, werden wir gründlich klären müssen.) Er frönte dem Wunsch, die Normen der Kultur zu untergraben, beziehungsweise eine alternative Wirklichkeit zu erzeugen, die realer würde als die Realität selbst.

’Pataphysik: ein absurdistisches Philosophie- und Wissenschafts-Konzept, das auf den französischen Schriftsteller Alfred Jarry (1873-1907) zurückgeht. Methodik und Denkweise der modernen Wissenschaft werden dabei häufig auf ganz unsinnige Weise parodiert. Nach Jarry ist ’Pataphysik die Wissenschaft des Partikulären, also des besonderen Einzelfalls. Diese provokante Auffassung steht im Gegensatz zur gängigen Definition nach Aristoteles, dass Wissenschaft sich immer nur mit dem Allgemeinen beschäftigen könne. Normalerweise spricht man von „Physik“ und „Metaphysik“, wobei Physik im weitesten Sinne Naturlehre ist und Metaphysik sich mit Dingen befasst, die jenseits der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt liegen, also zum Beispiel mit einer Glaubenslehre oder abstrakten Kategorien. Die ’Pataphysik hingegen ist nach Jarry „die Wissenschaft von dem, was zur Metaphysik hinzukommt – sei es innerhalb, sei es außerhalb ihrer selbst – und die sich ebenso weit jenseits dieser ausdehnt wie diese jenseits der Physik“. Die ’Pataphysik stehe somit zur Metaphysik wie die Metaphysik zur Physik. Jarry definierte die ’Pataphysik als die Wissenschaft der imaginären Lösungen, „welche die Gesetzmäßigkeiten der Ausnahmen untersuchen wird und das Universum erklären wird, welches das hiesige ergänzt“. In der ’Pataphysik wird jedes Ereignis im Universum als außergewöhnliches Ereignis akzeptiert.

Der irritierende Apostroph vor dem Wortbestandteil „Pata-“ dient nicht nur als geistiger Widerhaken, sondern hat auch etwas mit der Herkunft dieses Kunstwortes zu tun. Der Begriff „Metaphysik“ kam von griech. ta meta ta physika, d.h. „das, was hinter der Physik steht“, weil in der ersten Aristotelesausgabe im 1. Jh. v. Chr. die allgemeinphilosophischen Bücher des Aristoteles buchstäblich hinter seinen Büchern über die „Physik“ eingeordnet wurden – im Regal! Sinnbildlich wurde dies jedoch später als „alles Wissen, das über die Natur hinausgeht“, interpretiert. Das scheint aber nicht gereicht zu haben, denn wie jeder Philosophiestudent weiß, hat auch die Metaphysik sich spätestens seit Immanuel Kant zu einem Käfig starrer Kategorien und diktatorischer Verallgemeinerungen bzw. „Gesetzmäßigkeiten“ und „Imperative“ entwickelt, wogegen bereits die Romantiker des 19. Jahrhunderts, wie etwa E.T.A. Hoffmann, mit einem Schwall bewusst irrationaler Ergüsse protestierten. Wenn also die angebliche Welt des Geistes inzwischen ebenfalls zu einer Zwangsjacke geworden ist – übrigens auch auf den Gebieten der Theologie und des Kunstbetriebs –, dann wird eine originelle Seele den Impuls nicht unterdrücken können, erneut den freien Geist zu betonen und den Geist der Freiheit freizusetzen. Sonst hat man bald gar nichts mehr, was wirklich a priori ist. Deshalb die „’Pataphysik“, abgeleitet von epi (meta ta physika), wobei die Voranstellung epi „bei, zu ... hinzu, daneben“ oder „auf, an, über, darüber“ bedeutet. In dem Wort ’Pataphysik überlebt nur das „p“ von epi, daher als Auslassungszeichen der Apostroph. Gemeint ist also das, was zusätzlich zur Metaphysik noch „darüber hinaus“ hinzukommen oder beachtet werden müsste. Die Worterklärung ist nicht ganz befriedigend, aber Jarry war eben ein Provokationskünstler, eine Art Rumpelstilzchen mit satirischen Absichten.

Jarrys Schriften hatten tiefgreifenden Einfluss auf den Surrealismus und die als „Dada“ bekannte Kunst- und Literaturrichtung (Dadaismus). Mit seinem „König Ubu“ gilt Alfred Jarry auch als Vorläufer des absurden Theaters. Ein anderes seiner Bühnenstücke, „Caesar Antichrist“, erweiterte 1895 die bereits florierende künstlerische Stilrichtung des Symbolismus um jene kritische Absurdität, die Jarrys besonderes Markenzeichen wurde. Darin benutzte er die Offenbarung des Johannes als Ausgangspunkt, um in extrem förmlichem Symbolismus eine Parallelwelt vorzustellen, in der Christus nicht als Förderer der Spiritualität, sondern als ein Agent des Römischen Reiches aufersteht, das die Spiritualität unter seine Knute zu bringen sucht.

Man beachte die Tatsache, dass diese halbsatirische „Gegenwelt“ deutliche Parallelen zur heutigen, längst nicht mehr von französischen Spaßvögeln kontrollierten Prieuré-de-Sion-Propaganda aufweist, die ziemlich unverfroren die Göttlichkeit Jesu unterminiert und dennoch die implizierte, völlig unbelegte Abstammung gewisser Prätendenten von Jesus und Magdalena als Argument für die Wiedereinführung einer gesamteuropäischen Monarchie suggeriert. Mit pseudoreligiösem Getue innerhalb dieses Themenkreises lassen sich leicht die Emotionen aufwühlen und die oberflächlich denkenden Massen ins Kino locken. Denn das Christentum krankt ein wenig daran, dass die freie persönliche Erkenntnis, die „Gnosis“, in den ersten Jahrhunderten nach Christus von den Kirchenvätern systematisch verdammt und unterdrückt wurde. Somit wurde auch in der realen europäischen Geistesgeschichte eine vielfältige Spiritualität konkret „unter die Knute gebracht“ und verketzert. Das gelang unter anderem deshalb, weil nicht nur die bereits etablierte Geistlichkeit, sondern auch das Römische Reich in der Tat daran interessiert war, einen möglichst einheitlichen Glauben oder wenigstens ein halbwegs kompatibles Glaubensgemisch durchzusetzen. Das griechische Wort für Ketzerei, „Häresie“, bedeutet denn auch nichts anderes als „das Gewählte“, also eine Überzeugung, zu der man sich selbständig entschieden hat. Dafür konnte man lange Zeit ohne viel Federlesens verkannt, verbannt oder verbrannt werden.

In der ’Pataphysik werden Wissenschaft, Sciencefiction, Technologie und Kunst miteinander vermischt. Im philosophischen oder esoterischen Bereich erfindet die ’Pataphysik unter umgekehrten Vorzeichen ein Paralleluniversum, das an die Stelle der bekannten Welt treten könnte. Unter besonders „günstigen“ Voraussetzungen genügt aber schon eine kleine Portion bewusst gebrauchter Absurdität, um in die üblichen logischen oder metaphysisch-religiös genormten Denkmuster so viel Verwirrung einzuspritzen, dass ein ganzes traditionelles Muster, eine ganze Matrix an Übereinstimmungen aus dem Gleis gerät. Das kann natürlich umso leichter passieren, wenn die alteingesessenen Überzeugungen ihrerseits auf einer ursprünglichen Absurdität beruhen oder ein mühselig mit allerlei Geheimnissen, mit Gummibändchen und Klebstreifen aufrecht erhaltenes Lügengebäude sind. Offenbar geht es darum, ins große, gewaltige Getriebe der menschlichen Vernunft, die sich mit unentrinnbarer Logik und Kausalitätsgläubigkeit zuweilen als widerwärtiges Gefängnis entpuppt, ein Stück Nonsens hineinzuwerfen, eine kleine Dosis blanken Unsinn, der weit verzweigte Folgen nach sich zieht. Man könnte die ’Pataphysik somit auch als die Kunst des folgenreichen oder folgenschweren Blödelns bezeichnen.

Leute, die so denken, sprengen auf jeden Fall den Rahmen der vereinbarten Wirklichkeit. Der normale Leser würde erwarten, dass ein angeblicher Sachbuchautor ihm nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit sagt oder sich der Wahrheit wenigstens anzunähern versucht. Dieses Vertrauen wird missbraucht. Denn hier kommen Leute daher, deren weitgehend verborgene Zielsetzung es ist, die bestehende Realität durch Absurdität (ja sogar „Absurdismus“) zu untergraben und aus dieser Subversion beinahe zufällig und ziemlich verantwortungslos eine andere Realität entstehen zu lassen. Das ist eigentlich sehr unangenehm; wenn man sich daran gewöhnt hat, wird es vielleicht wieder lustig, aber nur sehr „vielleicht“.

Man kann diese Art philosophischer Ausgeflipptheit als typische Reaktion auf eine Zeitspanne chaotischer Umwälzungen betrachten; das durchaus einflussreiche „Collège de ’Pataphysique“ entstand 1948 sicherlich auch als antilogische, antirationale Reaktion auf die Ungeheuerlichkeiten des zweiten Weltkriegs, genau wie in der Zeit von 1919 bis etwa 1923 die wildesten politischen und religiösen Ideen emporkochten. Nach Aussage des französischen Schriftstellers Raymond Queneau (1903–76) beruht die ’Pataphysik „auf der Wahrheit von Widersprüchen und Ausnahmen“. In den 60er Jahren fand das ’pataphysische Konzept häufig in verschiedenen Kunstformen Verwendung, besonders in der Popkunst und Populärkultur. Die Beatles erwähnen die ’Pataphysik 1969 in ihrem Song Maxwell’s Silver Hammer. In den 50er Jahren bildeten sich ’pataphysische Institute in Buenos Aires und Mailand, während der 60er Jahre dann in London, Edinburgh, Budapest, Liège und vielen anderen europäischen Städten. Das Zentrum der Bewegung verbleibt in Frankreich.

Wir können uns merken, dass diese „’Pataphysiker“ sich jenseits der Metaphysik zu bewegen versuchten und sich als schöpferische, irrationale Witzbolde betätigten, indem sie die Methoden und Theorien der modernen Wissenschaft satirisch parodierten und sich unsinniger sprachlicher Kreationen sowie überraschender Momente von Zufall und Willkür bedienten.

 

 

Blödsinn aus dem Nichts

Die Moritat vom Priorat – wie ein Fiebertraum im Hyperraum, eine eiternde Geschwulst in der Phantasie der Menschheit – entfließt einer sehr unbürgerlichen, bewusst unseriösen Grundeinstellung. Gleichzeitig beruht sie auf einer sorgfältig errichteten Vorspiegelung, deren Urheber sich in historischen Einzelheiten, kryptographischen Finessen und sogar in der wissenschaftlichen Methodik des Historikers sehr gut auskannten. Deshalb konnten sie, indem sie die Wissenschaft ’pataphysisch auf die Schippe nahmen, zahlreiche Rechercheure jahrzehntelang in die Irre führen. Ein „normaler“ Mensch käme ja auch gar nicht darauf, dass irgendjemand so große Anstrengungen auf sich nehmen würde, um ohne jeden praktischen Zweck ein aberwitziges Lügengebäude zu errichten. Aber so ist es. Wie gesagt, ein kleines bisschen schöpferische Originalität, untermauert durch liebevoll und akribisch präsentierte Fälschungen, kann die ganze Maschinerie des generell akzeptierten Wirklichkeitskonstrukts ins Stottern bringen – womöglich deshalb, weil dieses Konstrukt auch seinerseits nur auf einer winzigen Prise Originalität in ferner Vergangenheit beruht, die sodann durch liebevoll und akribisch präsentierte Fälschungen untermauert wurde. (Der Aspekt, dass dies in der Tat oft liebevoll geschieht, spielt hierbei eine wichtige, je nach Geschmack und Anwendungsbereich geradezu tückische Rolle.) Sicher, bei solchen Gedanken kann einem schwindlig werden! Die beste Abhilfe dagegen ist, sich auf die Dinge der unmittelbaren Beobachtung, die eindeutig empfundene Zuneigung zu wirklichen Mitmenschen und den konkreten eigenen Wirkungskreis sowie auf persönliche Gewissheiten zu verlassen. Glauben Sie einfach an sich selbst und an das, was Sie sehen, und nehmen Sie notfalls einen Besen, eine Schaufel, einen Liebespartner oder ein Motorrad und knattern Sie munter drauflos! Diese komischen französischen Onkels wollen uns doch bloß ärgern!

Aber nachdem das gesagt ist und jederzeit beherzigt werden kann, sollten wir aus prophylaktischen Gründen trotzdem wissen, wie sie es angestellt haben, die Welt zu belügen. Philippe de Chérisey, Surrealist, ’Pataphysiker und Rätselliebhaber, baute in seine gefälschten „Pergamente“ verschlüsselte Botschaften ein, die im Grunde nur sein Talent für absurde Irreführungen unter Beweis stellten. Eine dieser Fälschungen zeigt wahllos verstümmelte lateinische Zeilen, in denen bestimmte Buchstaben hervorgehoben sind; liest man diese nacheinander, erhält man in modernem Französisch die relativ sinnlose Botschaft: A Dagobert II Roi et à Sion est ce trésor et il est la mort. („Dieser Schatz gehört König Dagobert II. und Zion, und dort liegt er tot.“) Welcher Schatz? Welches Zion? Wo liegt er tot? Und wieso Dagobert?

Die Autoren des Buches Der Heilige Gral und seine Erben (1982) fanden diesen absurden Spruch „durchaus sinnvoll“, und seither sind allein über die vermeintliche, hintergründige Bedeutung dieser einen, qualvoll hohlen Aussage zahlreiche Aufsätze, Kapitel und ganze Bücher geschrieben worden. Sehen wir uns das einmal an, bevor wir die schillernde Seifenblase gleich dort am Anfang wieder zerplatzen lassen. Denn es ist ein erschreckendes Lehrstück über die menschliche Tendenz, völlig überflüssige Verkomplizierungen zu entwickeln, besonders wenn die Nase des Neugierigen an irgendetwas „Geheimnisvollem“ kleben bleibt – und wenn professionelle Schwindler sich aus Schabernack oder anderen Gründen vorgenommen haben, ihre Mitmenschen gründlich zu täuschen.

Angeblich stammte das Dagobert-Dokument aus der Zeit um 1780; der Öffentlichkeit wurde weisgemacht, der Dorfpriester Saunière habe es in seiner Kirche gefunden und sei dadurch zu großem Reichtum gelangt. In Wirklichkeit hatte de Chérisey einfach Schreibpapier aus den 1960er Jahren benutzt, und Gérard de Sède präsentierte die Fälschung 1967 vorsätzlich in seinem Buch über den „verfluchten Schatz von Rennes-le-Château“. Nun entstanden zahlreiche Spekulationen, die schließlich von Baigent, Lincoln und Leigh 1982 in ihrem Millionenbestseller über den „Heiligen Gral“ in alle Welt verbreitet wurden. Im Wesentlichen liefen die Spekulationen darauf hinaus, dass der „Schatz“, der „König Dagobert II. gehört“, ein Geheimwissen darstellen soll, welches über viele Jahrhunderte von der „Prieuré de Sion“ gehütet worden ist (die es erst seit 1956 gibt): nämlich das Geheimnis, dass die Merowinger nicht mit König Dagobert II. im 8. Jahrhundert ausgestorben sind, sondern dass ihre Dynastie (ihre „Blutslinie“, wie es altmodisch ausgedrückt wird) bis heute fortbesteht; dass Pierre Plantard oder ein anderer heutiger Nachfahre der Merowinger somit einen Anspruch auf den französischen Königsthron geltend machen könne; und dass Jesus möglicherweise die Kreuzigung überlebt habe und mit Maria Magdalena ins Languedoc gelangt sei und dass er womöglich gar „dort“ – etwa bei Rennes-le-Château – begraben sei; dass Nachfahren von Jesus im Languedoc überlebt haben sollen und zu den Vorfahren des Königsgeschlechts der Merowinger zählten, wofür allerdings niemand einen Beweis antreten kann. Der christliche Mythos vom „Heiligen Gral“ wird in diesem Zusammenhang als das Geheimnis um eine Blutslinie interpretiert und damit auf fatale Weise für irdische Machtansprüche instrumentalisiert.

Angeblich war mithilfe eines solchen „Informationsschatzes“ der Dorfpriester Saunière in der Lage, sich vom europäischen Hochadel für weitere Ausgrabungen oder fortgesetzte Geheimhaltung bezahlen zu lassen und womöglich gar den Vatikan zu erpressen. Alles aus den Fingern gesaugt – die albernen Papierfetzen waren ja erst in den 60er Jahren von Philippe de Chérisey fabriziert worden, und Saunière hatte sich nachweislich bloß durch betrügerisches Spendensammeln eine goldene Nase verdient!

Aus all diesem sorgfältig und überhaupt nicht mehr liebevoll ausgekochten Schwachsinn ist mittlerweile, besonders nachdem der Erfolgsautor Dan Brown ihn mit einer Weltauflage von etwa 50 Millionen Exemplaren seines Romans „Das Sakrileg“ (The Da Vinci Code) erneut durchgequirlt hat, ein gigantisches, weltweites Medienereignis und auch ein Großangriff aufs Christentum geworden, sodass wohl niemand mehr akzeptieren kann, dass am Ursprung der großen Aufregung ein substanzloser Scherz stand. Nämlich: Philippe de Chérisey – ein profanisierter Graf, der sich als Marquis ausgab – war von Pierre Plantard angeregt worden, ein paar Dokumente zu fälschen. Als Surrealist und ’Pataphysiker arbeitete er in leicht verschlüsselter Form den ominösen Satz ein: „Dieser Schatz gehört König Dagobert II. und Zion, und dort liegt er tot.“ – Das ist alles! Echt doof.

Der Journalist, Schriftsteller und Künstler Jean-Luc Chaumeil, der seit 1971 in den Rummel um Rennes-le-Château verstrickt ist, hat im August 2006 in einem Interview mit der französischen Website Gazette de Rennes-le-Château berichtet, wie die Zusammenarbeit zwischen Plantard, de Chérisey und de Sède ausgesehen hat und was es rein menschlich mit dieser „verschlüsselten Botschaft“ auf sich hatte. Er erzählt:

Philippe de Chérisey war außerordentlich sentimental. Wenige wissen von der Tragödie, die sich auf einer bestimmten Straße nahe dem Ort Rennes-les-Bains [einem Nachbarort von Rennes-le-Château] zugetragen hat. Dort verlor er bei einem Autounfall seine geliebte Freundin. ... Für ihn, den traurigen Poeten, bezieht sich die entschlüsselte Aussage des kleinen Pergaments, „Dieser Schatz gehört König Dagobert II. und Zion, und dort liegt er tot“, weder auf Gold noch auf Urkunden von epochaler Bedeutung für die Menschheit, noch auf irgendeine Enthüllung im Stil eines Christus oder dergleichen – nein, Philippe de Chérisey huldigt hier einfach seiner verlorenen Liebe, die „LA MORT(e)“ (dort tot) ist. Sollen wir das Wort „LA“ als einen Artikel (la = die) oder als ein Adverb ( = da, dort) auffassen? Es war sicher als Adverb gedacht, spielt aber weder auf einen heiligen Schatz noch auf die Höhle von Ali Baba an, sondern einfach auf einen geliebten Menschen, den man für immer verloren hat. – Sein Schatz, der Schatz, von dem er spricht, war seine Verlobte! Das hat er an anderer Stelle auch gesagt. (Jean-Luc Chaumeil, Interview mit der Gazette de Rennes-le-Château, August 2006)

Die Gazette zitiert daraufhin de Chérisey mit dem Satz: „Meine geliebte Roseline, die am 6. August 1967 starb, dem Fest der Verklärung, während sie mit dem Wagen den Nullmeridian verließ.“ Das Fest der Verklärung, d.h. der Verwandlung der Gestalt Jesu in die Daseinsweise der himmlischen Wesen, fällt in der Tat auf den 6. August. Hingegen verläuft der Nullmeridian eigentlich, von London kommend, sehr viel weiter westlich durch Lourdes, aber lassen wir das; für den Dichter wird wohl auch dieses Detail eine mysteriöse, persönliche Bedeutung haben, oder er denkt sich den Nullmeridian ein bisschen breiter.

Das zweite große „Pergament“-Geheimnis aus der Feder de Chériseys, das dem Dorfpriester Saunière untergeschoben wurde, war sehr viel schwerer zu entschlüsseln und manifestierte sich, man höre und staune, in einem noch verrückteren Klartext, ohne Punkt und Komma, dessen wohlwollend gegliederte Übersetzung lautet:

„Schäferin, keine Versuchung. Dass Poussin, Teniers den Schlüssel besitzen; Friede 681. Beim Kreuz und diesem Pferd Gottes beende – oder zerstöre – ich diesen Dämon von Wächter zu Mittag. Blaue Äpfel.“ (Lincoln/Baigent/Leigh, Der Heilige Gral und seine Erben, S. 23)

Das ist meisterhafter Schwachsinn, direkt aus dem Höllenpfuhl extremster ’Pataphysik, und gab Anlass zu einer endlosen Fülle an Interpretationen, die jeden Forscher auf neue Irrwege führten und eine gebannt mitlesende Öffentlichkeit in immer größere Verwirrung stürzten. Man bedenke, dass vonseiten der ’Pataphysik auch schon die unsinnige und blasphemische Forderung aufgestellt wurde, man solle „die Oberfläche Gottes berechnen“. Die „blauen Äpfel“ sind sicher die Krone der Schöpfung; da der französische Text völlig ungegliedert ist, könnte mit dem Wort midi statt „Mittag“ auch „Süden“ gemeint sein, und wenn die Satzzeichen anders gesetzt werden, käme „im Süden blaue Äpfel“ dabei heraus. Die Autorin Monika Hauf will aus diesem „Hinweis“ herauslesen können, dass eine Schatzsuche im Süden Frankreichs vergeblich sein müsse, denn blaue Äpfel gebe es ja gar nicht. So versucht jeder aus dem Irrsinn ein bisschen Klugheit abzuleiten, anstatt zu verstehen, dass da absolut nichts zu holen ist, weil es eben vorsätzlicher Irrsinn ist. Und gerade das ist so schwer zu verstehen. Ehrliche Menschen finden auch den destruktiven Impuls, der sich dahinter verbirgt, ganz unbegreiflich und zerbrechen sich deshalb unnötig den Kopf. Fleißige Menschen, die für sich selbst und ihre Mitmenschen sehr viel Besseres tun könnten, verschwenden Wochen, Monate oder Jahre auf unnötige Nachforschungen.

 

 

Die Methodik der Irreführung

Pierre Plantard hat seine Spuren geschickt verwischt, sodass seine geistige Urheberschaft oder ursächliche Anregung bei zahlreichen Dokumenten, Artikeln und Büchern, die er mit seinen Mitstreitern in den Raum stellte, kaum festzustellen ist. Das Autorenteam Lincoln/Baigent/Leigh vermerkt 1982 immerhin, dass so ziemlich alle Informationen, die seit etwa 1956 zum Thema Rennes-le-Château und Bérenger Saunière an die Öffentlichkeit gelangten, in irgendeiner Weise von Pierre Plantard stammten. Viele Schwindeleien bleiben direkt in der „Familie“; Gérard de Sède interviewt Plantard für seine Bücher und verwendet de Chériseys gefälschte Saunière-Urkunden, während de Chérisey gemäß Plantards Anregungen auch die gewünschten Stammbäume zusammenflickt.

Der Ursprung zahlreicher Texte wurde verfälscht. Zu den banaleren Tricks zählten Veröffentlichungen unter falschem Namen und falschem Datum; besonders perfide wird es dann, wenn der Name eines Toten verwendet wird, der sich nicht mehr wehren kann, und noch schlimmer, wenn es jemand ist, der unter mysteriösen Umständen ums Leben kam und angeblich einen Text verfasst haben soll, der ihm erst nachträglich zugeschrieben wurde, dessen Entstehungsdatum jedoch fälschlich auf einen Zeitpunkt kurz vor seinem Tod verlegt ist. Man nehme eine Zeitung, schreibe die Namen von drei Personen heraus, die erhängt oder verstümmelt aufgefunden wurden, und setze diese Namen auf den Titel einer angeblich mehrere Monate zuvor entstandenen Broschüre. So soll der Eindruck einer gefährlichen Organisation im Hintergrund erweckt werden, die etwaige Plappermäuler kaltblütig abmurkst. Leicht psychopathisch mögen in dieser Phantasiewelt auch Räuberpistolen aus der Zeit der französischen Résistance oder der typischen kultisch-okkulten Pariser Geheimgesellschaften des 19. Jahrhunderts mit hereinspielen. In den 70er Jahren wurden über die „Prieuré“ düstere Gerüchte ausgestreut, um neugierige Rechercheure abzuschrecken oder sie in Wirklichkeit anzulocken. Nichts ist, wie es scheint, und die Leser wandeln genau wie die Rechercheure ständig auf Treibsand.

Was die gefälschten Stammbäume betrifft: Sie sind mit großer Sachkenntnis zusammengekleistert und streckenweise sehr authentisch, sodass Historiker, die gewohnheitsmäßig nach widerlegbaren Details suchen, keine offensichtlichen Fehler finden können. Aber an den entscheidenden Bruchstellen – da, wo gekleistert wurde – bleibt der Nachweis unbefriedigend. Insofern verdient die Plantard-Clique zwar keine Wahrheitsmedaille, denn sie hat die typisch wissenschaftlich vorgehenden Rechercheure bloß hereingelegt; aber sie verdient in manchen Punkten eine Art Unwiderlegbarkeitsmedaille, einfach weil sich viele ihrer Behauptungen vor einer glaubwürdigen Kulisse in grauer Vorzeit verlieren.

Typisch für sämtliche Interviews oder frischen „Enthüllungen“ von Pierre Plantard ist das Merkmal, dass er die bestehende Verwirrung grundsätzlich noch vertieft, neue Widersprüche einstreut und mit all seinen Andeutungen im Grunde mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. So gerät die Diskussion immer wieder auf neue Abwege und versumpft in endlosem Klärungsbedarf. Vage, ausweichend und mysteriös sagt er zum Beispiel 1973 in einem Interview mit der französischen Zeitschrift Le Charivari zum Thema Merowinger: „Sie müssen die Herkunft bestimmter großer Familien Frankreichs erforschen, und Sie werden verstehen, warum eine Persönlichkeit wie Henri de Montpézat eines Tages König werden könnte.“ (Der Heilige Gral und seine Erben, S. 209)

Die Fakten? Der französische Graf Henri de Laborde de Montpézat heiratete 1967 die dänische Kronprinzessin Margrethe, die seit 1972 Königin von Dänemark ist. Der dänische Prinzgemahl, in Dänemark als „Prinz Henrik“ bekannt, hat natürlich keine Chance, jemals König zu werden – weder in Dänemark noch in Frankreich, egal ob mit oder ohne „Merowingerblut“. Das dürfte auch im Jahre 1973, als Plantard dieses Interview gab, völlig offensichtlich gewesen sein; in Frankreich war die Monarchie definitiv abgeschafft, die Grafen von Montpézat waren irrelevant, und in Dänemark hätte kein Prinzgemahl jemals einen Anspruch auf den Thron erheben können. Aber es sollte niemanden wundern, wenn Plantard mit seinen albernen Anspielungen dem einen oder anderen Adligen einen Floh ins Ohr setzen konnte. Prinz Henrik, der bei seiner Eheschließung nicht nur den Namen, sondern auch seine Konfession und Nationalität hatte ändern müssen, war mit dem Prinzentitel nicht vollauf zufrieden; gelegentlich kam Unmut auf, weil der Mann einer Königin sich eben nur „Prinz“ oder „Prinzgemahl“ nennen darf. Immerhin ergeben sich aus Plantards locker dahingeplätscherter Andeutung weitere gewichtige Spekulationen: Falls die Familie Montpézat, wie die Prieuré-Fälscher behaupten, zu den Nachfahren der Merowinger zählt, hätte Graf Henri das „Merowingerblut“ ins moderne dänische Königshaus eingeführt, sodass nun auch seine Söhne ein gewisses Interesse an den Prieuré-Gerüchten haben könnten – wenn sie für diesen Unfug anfällig wären, aber sie haben ja gar keinen Bedarf. Oder?

Nun, Sie sehen, was hier passiert. Plantard wird gefragt, was es mit den Merowingern auf sich hat, und seine Antwort schweift derart irrelevant auf das Beispiel eines Mannes ab, der de facto die französische Nationalität an den Nagel hängen musste, dass wir querfeldein spekulieren. Die Frage nach den Zielen der Prieuré de Sion beantwortet Plantard 1973 genauso ausweichend: „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Gesellschaft, der ich angehöre, ist sehr alt. Ich folge anderen nach, bin nur ein Glied in einer langen Kette. Wir sind Bewahrer gewisser Dinge, ohne große Publizität zu entfachen.“ (a.a.O., S. 209) Das ist natürlich ein Witz. Das Alter seiner „Gesellschaft“ ist vorgetäuscht, die „lange Kette“ ihrer Tradition ist reine Einbildung, eine geistige Möchtegern-Ahnenreihe, und „Publizität“ ist ganz offensichtlich das einzige Kapital und der innigst gehegte Wunsch dieses Lügenbarons par excellence. Er beherrscht die große Kunst der publikumswirksamen Heimlichtuerei. Der liebenswürdige, unverschämte Gaukler bringt den Fragesteller so durcheinander, dass dieser nicht mehr klar genug denken kann, um das zu hinterfragen, was unbedingt in Frage gestellt werden muss, nämlich den verfassungsfeindlichen Missbrauch der Vereinigungsfreiheit, der hier angedeutet wird. Die Monarchie ist doch längst abgeschafft! Aber selbst damit würden wir ins Leere greifen, denn der ganze umstürzlerische Verein würde sich, sobald die Polizei anrückt, als reines Phantasieprodukt erweisen. Die einzige gesunde Alternative wäre der Beschluss, sich künftig mit ehrlichen, vernünftigen und produktiven Menschen zu befassen (wenn einem das nicht zu langweilig ist).

Dem Autorentrio des Heiligen Grals gelingt es 1979, durch Vermittlung des Schriftstellers Jean-Luc Chaumeil (der sich zu jener Zeit als Sprachrohr oder Sickerrohr der Prieuré darzustellen scheint, ohne nach eigenen Angaben „Mitglied“ der Prieuré zu sein) ein Treffen mit dem großen Schleiermacher Pierre Plantard zu arrangieren. Was für eine Schau der Mann abzieht, ist von den geblendeten „Grals“-Autoren in wenigen Zeilen treffend festgehalten:

Pierre Plantard erwies sich als würdevoller, höflicher Mann von dezent aristokratischer Haltung, eine charmante, lebhafte Persönlichkeit mit gepflegter Ausdrucksweise. Er ließ umfassende Bildung und eindrucksvolle geistige Beweglichkeit erkennen. Seine Entgegnungen waren witzig und schlagfertig, aber in keiner Weise verletzend. Häufig lag ein leicht belustigtes, nachsichtiges Lächeln in seinen Augen. Doch trotz seines bescheidenen Auftretens wurde ihm von seiner Umgebung größter Respekt entgegengebracht. Ihn umgab eine Aura von Askese und Nüchternheit, da er keinerlei Reichtum zur Schau trug. Seine Kleidung war konservativ und geschmackvoll, aber weder auffallend elegant noch augenscheinlich teuer. (Lincoln/Baigent/Leigh, Der Heilige Gral und seine Erben, S. 213)

Die Beschreibung vermittelt zumindest den Eindruck, dass Monsieur Plantard seine vermeintliche Bestimmung in der Welt voll und ganz auslebte und in seiner Rolle sehr überzeugend aufging; und dass er gleichzeitig in gepflegter Doppelmentalität in der Lage war, den eigenen Witz und die Gutgläubigkeit seiner Mitmenschen in vollen Zügen zu genießen. Jedenfalls bis an diesen Punkt der Entwicklung; später geriet ihm die eigene Kreation außer Kontrolle.

1979 schafft er es, gegenüber den britischen Autoren kokett zu bleiben. Zu den aktuellen Unternehmungen und den Zielen seiner Prieuré (als ob es eine solche gäbe!) will er sich nicht äußern. Er lässt, wie üblich, mysteriöse Andeutungen einfließen, die alles nur noch komplizierter und geheimnisvoller machen. Die Prieuré de Sion sei im Besitz des verlorenen Schatzes aus dem Tempel in Jerusalem, jedoch sei der eigentliche Schatz spiritueller Natur und berge ein brisantes Geheimnis in sich. Er unkt herum, es werde in Frankreich bald dramatische Umwälzungen geben, die letztlich die Wiedererrichtung einer Monarchie begünstigen würden. Hier ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens. Die Autoren des Buches Der Heilige Gral und seine Erben geben zu: „Nach drei Gesprächen mit Pierre Plantard waren wir nicht viel klüger als zuvor.“ Im Grunde versuchen sie alle Taschenspielereien Plantards und seiner Mitgaukler für bare Münze zu nehmen, soweit nicht das Gegenteil auf der Hand liegt, aber „wieder einmal“ fragen sie sich, ob die Prieuré nicht einfach aus „lauter Spinnern“ besteht und sie nicht einem „ausgemachten Schwindel“ aufgesessen sind (a.a.O., S. 214).

Doch aus schierer Hartnäckigkeit schreiben sie ihr Buch im Sinne ihrer ursprünglichen Grundannahmen fertig und landen damit einen internationalen Bestseller, dessen Erfolg wohl vor allem auf der Formel „Geheimnis, Geheimnis und nochmals Geheimnis“ beruht – und auf einem skrupellosen Spiel mit dem Feuer der monarchistischen Blutslinie (der „roten Schlange“, Le Serpent Rouge, der vermeintlichen wahren Bedeutung des „Heiligen Grals“), der Jesus-Connection, des Antikatholizismus und der angeblichen Magdalenen-Erotik. Pierre Plantard muss schmerzhaft feststellen, dass ihm die Kontrolle seines spaßhaften Mythos jetzt aus den Händen genommen ist und dass er dunkle, fast dämonisch anmutende internationale Kräfte entfesselt hat – vielleicht sogar wirklich eine beinharte aristokratische oder religionsfeindliche Lobby, die aus der versponnenen französischen Bilderwelt die mythologische Dynamik einer weltweiten Umwälzung herauszuholen versucht. Plötzlich gibt es Leute, die sich die von Pierre Plantard hingestellten Prieuré-Schuhe wirklich anziehen wollen oder die seine Andeutungen zu einem gefährlichen Drachen hochzüchten, der ihre vermeintlichen Feinde wie etwa den Vatikan, Opus Dei, den christlichen Glauben oder die westlichen Demokratien ernsthaft attackieren soll.

Lincoln, Baigent und Leigh machen sich an die Arbeit, über dieses lukrative Thema ein zweites Buch zu schreiben (falls drei Leute überhaupt jemals ein Buch „gemeinsam“ schreiben können): Das Vermächtnis des Messias. Pierre Plantard bekommt kalte Füße. Einerseits unternimmt er große Anstrengungen, die Abhaltung großer, erlauchter Generalversammlungen seiner nichtexistenten Prieuré vorzutäuschen, indem er die erlogenen Vorgänge nachträglich in einer Pressenotiz bekannt gibt, ohne dass es wirklich eine Versammlung gegeben hat; andererseits macht er sich als angeblicher „Großmeister“ der Prieuré de Sion rar und will kaum noch zu weiteren Interviews erscheinen. Als er sich dennoch dazu durchringt, deutet er, mystifizierend, schwere Machtkämpfe hinter den Kulissen der Prieuré de Sion an. Das Resultat ihres Gesprächs mit Pierre Plantard im Februar 1984 beschreiben Lincoln, Baigent und Leigh mit den Worten: „Wie gewöhnlich weckten die Antworten nur wieder eine Fülle neuer Fragen“, und: „Nichts war gelöst, keine der Fragen war zufriedenstellend beantwortet worden.“ Das ist natürlich nicht das Ergebnis einer Unterredung mit einem ehrlichen Mann.

 

 

Ausklang im Missklang

Sowohl Pierre Plantard als auch Philippe de Chérisey und Gérard de Sède haben später schriftlich zugegeben, dass die von 1965 bis 1967 in der Pariser Nationalbibliothek hinterlegten Schriften und Urkunden ein „brillanter“ Schwindel waren. Übrigens ist weder dort noch in anderen Schriften der angeblichen Prieuré de Sion die Behauptung nachzulesen, die Abstammung der Merowinger gehe auf Jesus und Maria Magdalena zurück. Dieses skandalträchtige Detail wurde erst von dem britischen Schauspieler Henry Soskin alias Henry Lincoln hinzugefügt und breitgewalzt, als er die Rennes-Legende 1982 mit Baigent und Leigh für den ersten großen Bestseller vom „Heiligen Gral“ überarbeitete. Plantard war zuerst überrascht, wenn nicht gar entsetzt; es heißt sogar, er habe die Verlängerung des Stammbaums bis hin zu Jesus und Maria Magdalena als ein Sakrileg bezeichnet. Trotzdem spielte er das Spielchen eine Weile mit. In Talkshows ließ er sich die verlegene Bestätigung abringen, es könne wohl möglich sein, dass er nicht nur der letzte überlebende Merowinger, sondern gar der letzte lebende Nachfahre von Jesus sei. Lincoln begann sich aber Sorgen zu machen, Plantards Leumund als Schwindler könne auch seine Glaubwürdigkeit gefährden, woraufhin es 1986 zum Zerwürfnis kam. Lincoln behauptete, die Magdalena-Story könne durchaus wahr sein, obwohl Plantard ein Schwindler sei, und Plantard widerrief die Dokumente der 60er Jahre, verschrie den Inhalt des Buches vom „Heiligen Gral“ als falsch und irrelevant und präsentierte 1989 eine wiederum stark veränderte, neue Version der Prieuré de Sion.

Aus seiner 1972 geschlossenen zweiten Ehe mit Anne-Marie Cavaille (oder laut Vermächtnis des Messias mit France Germaine Cavaille) war ein Sohn namens Thomas Plantard („de Saint Clair“) hervorgegangen, der 1989 in einer Neuauflage der Zeitschrift „Vaincre“ zum neuen Großmeister der Prieuré de Sion proklamiert wurde. 1993 kam es zu einem peinlichen Vorfall, als Pierre Plantard in einer Skandalsache um den Selbstmord des früheren Mitterrand-Vertrauten Patrice Pelat vor Gericht zitiert und ausgiebig verhört wurde. Die Ermittlungen wegen des Todesfalles und finanzieller Unregelmäßigkeiten liefen schon seit einigen Jahren. Pierre Plantard hatte Roger-Patrice Pelat als einen früheren Großmeister der Prieuré de Sion genannt. Unter Eid sagte Plantard nun aus, dass er die ganze Prieuré-Geschichte frei erfunden hatte. Der Richter ordnete bei Plantard eine Hausdurchsuchung an. Es kam eine Fülle an Prieuré-Dokumenten zutage, aus denen u.a. hervorging, dass Plantard der „wahre König von Frankreich“ sei. Der Richter kam zu dem Schluss, Pierre Plantard sei ein harmloser Spinner, entließ ihn aber mit einer ernsten Verwarnung, in Zukunft keine „Spielchen“ mehr zu treiben. Von da an war, dem Vernehmen nach, nicht mehr viel los mit dem alten Herrn.

Zusammenfassend ließe sich sagen: Der Begründer der ’Pataphysik, Alfred Jarry, war ein echter, wenngleich extrem krasser, Humorist oder ätzender Satiriker der vorletzten Jahrhundertwende. Die Anwender ’pataphysischer Prinzipien im Dunstkreis der Entstehung der Prieuré-Saga (Plantard, de Chérisey und de Sède) waren spaßhafte Surrealisten, deren Schöpfung sich am Ende verselbständigte und außer Kontrolle geriet, sodass sie offenbar zu Hanswürsten im Dienste ferner Machtneurotiker und Katholikenfeinde wurden. Zwar begannen sie sich, als sie den Schaden erkannten, mit Händen und Füßen zu wehren, und mehrfach beteuerten sie inständig, dass sie alles nur erfunden hatten, aber jetzt war es zu spät und keiner wollte ihnen glauben, dass sie nicht glaubwürdig waren. Es ist beinahe Stoff für eine Tragödie. Vom Spaß zum Ernst, wer möchte diesen Weg schon beschreiten? Diesen bitteren Kelch trinken? Aber gerade unsere notorischen, wenn nicht gar etwas pathologischen drei Spaßvögel gerieten in diese Falle hinein.

Pierre Plantard starb im Februar 2000, doch es könnte durchaus sein, dass sein kleiner „Prieuré“-Originalverein weiterhin fortbesteht. In Frankreich hat das Thema zwar gewaltig an Dynamik verloren, aber der Medienrummel um Dan Browns Romane und den Film Sakrileg trieb einen weltweiten Kult auf die Spitze und klatschte einen Schwall neuer Verwirrungen und Verdrehungen obendrauf. Damit ist der urige Prieuré-Mythos nun eigentlich zu einer bloßen Geld- und Propagandamaschine entartet, wobei die feineren Nuancen historischer Details wohl ebenso auf der Strecke bleiben wie die zauberhafte, beinahe zweckfreie Skurrilität eines einmaligen französischen Traumtänzers und unübertroffenen Lügenbarons.

Eckehard Junge im April 2007 für Co-Art Publications Ltd.

Text Copyright © 2015 Eckehard Junge

 

 

Bibliographie:

•   Michael Baigent, Richard Leigh und Henry Lincoln, The Holy Blood and the Holy Grail, Jonathan Cape, London 1982; dt. Der Heilige Gral und seine Erben, Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach 1984).

•   Michael Baigent, Richard Leigh und Henry Lincoln, The Messianic Legacy (New York: Henry Holt, 1986). Dt., Das Vermächtnis des Messias (Bastei-Lübbe-Taschenbuch, 3. Auflage 1995; erste deutschsprachige Ausgabe 1987 bei Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach).

    Priory of Sion Archive (http://priory-of-sion.com), insbesondere „Interview with Jean-Luc Chaumeil“, übernommen aus der französischen Website Gazette de Rennes-le-Château. URL der englischen Interview-Fassung: http://priory-of-sion.com/posd/chaumeil.html.

•     Robert Richardson, The Priory of Sion Hoax („Der Schwindel um die Prieuré de Sion“), erstmals erschienen in Gnosis Nr. 51, Frühjahr 1999. URL: http://www.alpheus.org/html/articles/esoteric_history/richardson1.html.

•    Massimo Introvigne, The Da Vinci Code FAQ, or Will the Real Priory of Sion Please Stand Up?, URL: http://www.cesnur.org/2005/mi_02_03d.htm.

    Massimo Introvigne, Beyond the Da Vinci Code: What is the Priory of Sion?, URL: http://www.cesnur.org/2004/mi_davinci_en.htm.

•    Wikipedia-Artikel über „Pataphysik“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Pataphysik) und „Alfred Jarry“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Jarry).

•     Schreiben von Pierre Plantard an Marschall Pétain vom 16. Dezember 1940: Französisches Original siehe http://priory-of-sion.com/psp/gap/petain.html; englische Version http://priory-of-sion.com/psp/id175.html.

•    Akte Ga P7 der Pariser Polizeipräfektur, mit polizeilichen Berichten von 1941 bis 1954: http://priory-of-sion.com/psp/id170.html (englisch; die einzelnen Dateien bieten auch Zugang zu den französischen Originaltexten).

•     Das Mysterium von Rennes-le-Château: Alles zur Geschichte des Dorfes, eine umfangreiche Website auf Deutsch für alle, die es „trotzdem gern glauben möchten“, ehemalige URL: http://www.dergral.de/rlc/index.htm.

 

 

 

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