Geheimnisse über Geheimnisse

 

Wenn Sie zu den Eingeweihten gehören wollen, kommen Sie irgendwann nach langen Prüfungen und Vorbereitungen an die letzte Geheimtür zum Allerheiligsten – so jedenfalls sind Sie indoktriniert –, und dann erfahren Sie endlich DAS große Geheimnis. Natürlich könnte das größte Geheimnis darin bestehen, dass es eigentlich gar kein Geheimnis gibt und dass jener letzte Altarraum vollkommen leer ist. Aber die Tradition der letzten Enthüllung, die Ihnen zuteil werden könnte, wenn Sie brav und vielleicht sogar  (würg!) keusch bleiben, kann auf eine lange und blühende Geschichte in den unterschiedlichsten Geheimgesellschaften, esoterischen Vereinen, Vordenker- und Nachmacher-Kultgemeinschaften, Religionsvereinen und Weisheitszirkeln zurückblicken.

So etwas passt vielen Menschen heutzutage nicht. Sie wollen die Weisheit lieber billig und reichlich mit Schöpflöffeln fressen; oder nachdem sie gemerkt haben, dass es jetzt eine viel zu große Informationsflut gibt, wollen sie das letzte und größte Geheimnis, gern in wenige Worte verpackt, jetzt und sofort an den Kopf geknallt kriegen, sonst glauben sie, dass ihnen jemand auf unzulässige Weise etwas vorenthält. Die Rätsel des Universums sollen in einer kurzen SMS beantwortet werden. Natürlich ist das unsinnig, denn jeder kann sich nur Schritt für Schritt vorwärts arbeiten, wie es seinem Wesen und seinen Fähigkeiten eben gemäß ist. Aber die Augen sind heutzutage größer als der Mund, will sagen: die Wissbegierde ist größer als das Fassungsvermögen.

In der Tat scheinen Gurus, Kultisten und Okkultisten diese Schnellimbiss-Marotte auf dem Weisheitsmarkt gelegentlich mit sehr kurzen Sprüchen zu befriedigen. Früher machten sie mir damit Angst; heute hingegen, nachdem ich mich durch reichlich viel Material durchgewühlt habe, lässt sich die Essenz dieser allzu knappen, ultraketzerischen Kernaussagen beschwerdefrei auf die Schnelle wiedergeben, um den Neugierigen einfach mit der Tür ins Haus zu fallen. Dann haben wir es hinter uns.

Im Grunde läuft es nämlich ungefähr auf das Gleiche hinaus. Am simpelsten sind die Statements, die nur drei oder vier Wörter umfassen und gern eine Verknüpfung mit dem schillernden Wörtchen „ist“ enthalten, was ja auch in der politischen Trickkiste gelegentlich vorkommt, so wie Rudolf Heß einmal rief: „Hitler IST Deutschland! Deutschland IST Hitler!“ Völlig verrückt, aber es wirkte. In einem ansonsten sehr viel informativeren Bereich, nämlich im Bereich der Religion, wird die undifferenzierte Gleichsetzung ebenfalls gern benutzt. Man muss sich im Einzelfall fragen, was eigentlich gemeint war und ob man die Aussage konkret gebrauchen kann.

Da heißt es dann zum Beispiel „Das bist du.“ (Upps! Einer der großen vedischen Leitsätze: im Original „tat tvam asi“.) Das ist, oberflächlich betrachtet, der älteste und auch der neumodernste Schrei der Weisheit, man zeigt auf die Welt und überwältigt (oder überweltigt) den Adepten mit dem Satz: „Das bist du.“ Hm, tja, „das“ ist ein ziemlich großer Happen. So schnell kann der zaghafte Sucher sich selbst oder seine geistigen Flügel unmöglich auf alles ausdehnen, es sei denn, irgendeine Automatik macht plötzlich klick und er verschmiert sich auf den ganzen Kosmos, womit er wahrscheinlich auf sehr schmerzhafte Weise seine eigene Identität verlieren würde. Es klingt aber zunächst sehr eindrucksvoll. Wahr ist, dass sich kaum feststellen lässt, wo die eigene Haut aufhört und die Umwelt genau anfängt; die Grenzen sind fließend, im Übrigen atmen und essen und schwitzen wir und scheiden allerlei aus, und die Atome, aus denen unser Körper besteht, kommen von sonstwo her; alle sieben Jahre ist der größte Teil tatsächlich ausgetauscht worden. Außerdem ist die Vereinzelung, die Absonderung, die Individualisierung der Einzelseele, die sich aus der Welt immer weiter zurückgezogen hat und die nun vielleicht irgendwo am Monitor sitzt und mit einem weit entfernten, anonymen „Partner“ die gemeinsame Selbstbefriedigung oder dergleichen betreibt, ein durchaus schmerzhaftes Phänomen und vielleicht erinnert uns der genannte Aphorismus daran, dass es früher mal bessere Zeiten gab und die letzte Wirklichkeit doch immer noch dieselbe ist. Dieses „Das bist du“ kann man also durchgehen lassen, doch merken wir schon, dass wir einige tief schürfende Überlegungen dazu anstellen müssen, sonst ist da nichts herauszuholen. In der Tat müssen wir fast alles selbst hineinstecken oder hineindeuten. Wieso? Na, ganz einfach, weil das du bist, oder? Ist doch logo.

Es gibt aber zum „tat tvam asi“ eine tiefgründigere (und in der Mystik viel typischere) Interpretation als nur eben diese, dass die Außenwelt identisch sei mit dem Ich. Die sogenannte Advaita-Interpretation erklärt den Spruch so, dass „das eigene Selbst in seinem reinen und ursprünglichen Zustand gänzlich oder teilweise identisch ist mit der Ultimativen Realität, die Boden und Verursacher aller Phänomene ist. Das Wissen (Jnana), dass dies so ist, bestimmt die Erfahrung von Moksha (Befreiung) oder Heil, das die Mystische Vereinigung begleitet.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Tat_Tvam_Asi; dort finden Sie auch Textlinks zu weiteren einschlägigen Definitionen.) Das leuchtet unmittelbar ein, und da nickt auch sofort der gute alte Meister Eckhart im deutschen Mittelalter, der ungefähr die gleichen Ansichten hatte und sie in christlich klingende Worte kleiden musste, um nicht sofort ein hübsches kleines Fegefeuer auf sich zukommen zu sehen. Genauer gesagt, Meister Eckhart sah sich genötigt, die „Ultimative Realität, die Boden und Verursacher aller Phänomene ist“, im einzigen erlaubten Jargon seiner Zeit als „Gott“ zu bezeichnen und den göttlichen Funken im Menschen, d.h. die Einzelseele, gar bildhaft mit Jesus gleichzusetzen. Wenn man das heute aus der Sicht einer vergleichenden Religionswissenschaft betrachtet, macht das alles Sinn. Es gibt einen anders lautenden indischen Spruch aus der Katha Upanishad, nämlich „etad vai tat“ (Dieses ist das), der im Westen ebenfalls manchmal zitiert wird. Auch hier könnte man zunächst meinen, man stünde vor einer schwammigen Verallgemeinerung und jemand hätte unsinnigerweise behauptet, das eine physikalische Objekt sei dasselbe wie ein anderes, die Vase sei der Tisch oder so, jedoch verweist auch diese Aussage in ihrem Kontext darauf, dass man das Selbst nicht durch die Sinne suchen soll, sondern dass die Einzelseele eins sei mit dem Universellen (nicht mit dem Universum, sondern mit dem Universellen). Das hilft natürlich nicht viel, wenn Sie gerade den Müll runterbringen müssen, aber es könnte helfen. 

Schön und gut, eigentlich wollte ich hier nur ein paar ultimative Geheimnisse erwähnen, die mir gelegentlich unterkamen, einfach weil diese Dinger ein bisschen vom Sockel gerissen werden müssen und weil man sich ihnen nicht mit Ehrfurcht, sondern mit der eigenen Denkfähigkeit und unter Beachtung des Kontextes nähern sollte. Wir sehen schon, dass mehr dahinter steckt. Bei Meister Eckhart kommt die gleiche Aussage mit westlicher Intellektualität daher und scheint sich nun auf den „Intellekt“ zu beziehen, worunter aber doch nichts anderes als das immaterielle Geistwesen zu verstehen ist, wenn nach Eckharts Interpretation laut Brockhaus „der Intellekt mit der Dingwelt nichts gemein haben kann, um sie erfassen und durchschreiten zu können. Wenn der Intellekt (das so genannte »Seelenfünklein« [»scintilla animae«]) aufhört sich mit den Dingen zu verwechseln, wenn er sich loslöst von allen Fixierungen, auch auf das Ich, die Tugend, den jenseitigen Gott und den Himmelslohn, vollzieht er die Einheit mit dem Weltgrund, in der er an sich immer steht.“ (Brockhaus in Text und Bild Edition 2002 unter „Eckhart, Meister Eckhart“) Genauso heißt es in Swami Krishnanandas englischer Interpretation der Katha Upanishad, dass „der aus sich selbst existierende Brahma die Sinne mit auswärts gerichteten Neigungen erschuf; deshalb nimmt der Mensch das äußere Universum wahr, nicht aber das innere Selbst (Atman). Ein weiser Mann jedoch, der seine Augen von den Sinnesobjekten abgewandt hat, in Ersehnung der Unsterblichkeit, sieht den Atman im Innern.“ Der Atman wird als letztlich eins mit der Weltseele, mit Brahman als dem eigentlichen Sein der Welt betrachtet.

Das war ergiebiger, als ich anfangs dachte. Wie steht es nun mit den anderen knapp formulierten Weisheiten, von denen so viel Aufhebens gemacht wird? Am tückischsten wäre natürlich ein Geheimnis, das mit viel Brimborium und großen Erwartungen umgeben, aber nicht ausgesprochen wird. Da fällt mir vor allem eine Stelle aus dem ketzerischen (oder jedenfalls nichtbiblischen) Thomas-Evangelium ein, wo es heißt:

[13] Jesus sagte zu seinen Jüngern:
Vergleicht mich und sagt mir, wem ich gleiche.
Es sagte zu ihm Simon Petrus: Du gleichst einem gerechten Engel.
Es sagte zu ihm Matthäus: Du gleichst einem weisen, klugen Menschen.
Thomas sagte zu ihm:
Meister, mein Mund wird es ganz und gar nicht über sich bringen, dass ich sage, wem du gleichst.
Jesus sagte:
Ich bin nicht dein Meister, da du getrunken hast und trunken geworden bist, von der sprudelnden Quelle, die ich ausgemessen habe.
Und er nahm ihn, zog sich zurück und sagte ihm drei Worte.
Als Thomas aber zu seinen Gefährten kam, fragten sie ihn: Was hat dir Jesus gesagt?
Es sagte zu ihnen Thomas:
Wenn ich euch eines der Worte sage, die er mir gesagt hat, werdet ihr Steine nehmen und nach mir werfen, und Feuer wird aus den Steinen kommen und euch verbrennen. (Das Evangelium nach Thomas)

Nun, das ist natürlich ein ganz übler Trick des Berichterstatters. Die nicht vorhandene Information. Es wird mit Ehrfurcht erweckenden Mitteln ein phantastisch machtvolles Geheimnis angedeutet, aber was es nun wirklich gewesen war, bleibt uns für immer verschlossen. Da hätte man lieber den Mund halten und darauf verzichten sollen, auf diese frevelhafte Weise die Feder ausrutschen zu lassen, denn nun kann die Nachwelt grübeln und nutzlos herumrätseln und sich grün und blau ärgern über dieses „wertvolle, verlorene Wissen“. Genauso albern verhalten sich Templer oder Freimaurer, wenn sie von einem „verlorenen Schatz“ oder „verlorenen Wort“ daherreden. Wenn es verloren ist, dann möge es verloren sein und Schwamm drüber! Anstelle des Unwissbaren können wir uns wichtigeren Dingen zuwenden. Wer keine konkrete Antwort hat, soll nicht mit uralten roten Roben herumflattern und keine seltsamen Andeutungen machen, sondern lieber im Stillen weitersuchen.

Übrigens ist genau dieses große „Geheimnis“, das in den altindischen Weisheiten eindeutig gelüftet wird und auch bei Meister Eckhart klar zum Ausdruck kommt, für die christlichen Kirchen aufgrund hierarchischer Machtbedürfnisse und geistlicher Vermittlungsansprüche zwischen Gott und den Menschen noch immer ein rotes Tuch. Es geht ja nur darum, dass wir im Grunde alle Söhne und Töchter Gottes sind und einen direkten Draht zum Urgrund oder zur Weltseele haben – und dass wir, wie man logisch folgern müsste, nicht unbedingt auf die priesterliche Vermittlung angewiesen sind. Vermutlich ist in der westlichen Welt die Angst vor dem Scheiterhaufen noch nicht ganz abgeklungen, oder der Schmerz der Flammen und der Folter in einem früheren Leben sitzt noch immer tief in vielen guten Hexen- und Ketzerseelen. Weil man vieles nicht sagen durfte, wird um das „Geheimnis“ ein schauerlicher Firlefanz aufgeführt. Das erklärt auch zum Teil die Popularität von Templer-Filmen, Dan-Brown-Romanen und pseudoreligiös verbrämten Illuminati-Geschichten, die von der konkreten Ausbeutung durch sehr irdische Eliten ablenken. Das Publikum bleibt aufgehängt in dem lustvoll-gefährlichen Spannungsfeld zwischen Wissenwollen und Nicht-Wissenwollen, ohne eigentlich etwas Stichhaltiges zu erfahren; stattdessen wird durch die schriftstellerische Freiheit ein erhebliches Maß an zusätzlicher Verwirrung gestiftet, weil heutzutage hinter fiktiven Darstellungen nur allzu gern ein bedeutungsvoller, authentischer Wahrheitsgehalt vermutet (!) wird. Die angeblichen Faktenmacher haben uns so oft angelogen, dass wir die Wahrheit jetzt bei den professionellen Lügnern suchen – bei den Film- und Romanautoren, deren ganzer Beruf es ist, Geschichten zu erfinden. Sie behaupten ja auch normalerweise gar nichts anderes.

Ja, was kann Jesus zu Thomas gesagt haben? Wenn es nur drei Worte waren – genauer gesagt, drei Wörter –, dann bietet sich doch die östliche Grundweisheit an: „Das bist du“ oder „Dieses ist das“ in der Bedeutung „Du bist letztlich eins mit der Weltseele“. Fertig, Geheimnis gelöst, denn wenn es aussieht wie eine Ente und wackelt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, dann ist es nach gesundem amerikanischem Menschenverstand mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit eine Ente. (If it looks like a duck and walks like a duck and talks like a duck, then by golly, it might as well be a duck!) Thomas hat später in Indien missioniert; es ist nicht auszuschließen, dass Jesus schon vorher dort war oder zumindest östliche Quellen kannte.

Wer sich mit solchen Fragen nur oberflächlich und auf die Schnelle befassen will, für den haben die kurzen Formeln natürlich gar keine Aussagekraft. Wirklich aufs Glatteis gerät man, wenn östliche Aussagen über den Urgrund des Seins einfach direkt auf den westlichen Gottesbegriff übertragen werden. Dann entstehen vermessene Andeutungen, die den Eindruck erwecken, dass die Weisheitsapostel sich nur um den heißen Brei herumdrücken, so als ob sie eigentlich sagen wollten: „Du bist Gott.“ Nein, bitte nicht! Ich habe das wirklich schon so gelesen; frei aus dem Englischen übersetzt: „Wenn du sagst, du bist nicht Gott, dann bist du Schrott.“ Man hätte es statt mit „Schrott“ auch als „ein bloßer Fußabtreter“ oder „ein armer Trottel“ übersetzen können. Das fand ich höchst bedenklich, und da bin ich nicht der einzige. Der ansonsten gut bekannte Autor forderte jedoch in einem Begleitvortrag mehr oder weniger augenzwinkernd dazu auf, die betreffende Spruchsammlung anonym bleiben zu lassen. Kein Wunder! Es gibt ja auch einen großen Unterschied zwischen dem Begriff „Gott“ und „ein Gott“ (einer unter vielen). So, wie der Westen artikellos Gott definiert, nämlich als Höchstes Wesen, Schöpfer des gesamten Kosmos einschließlich aller Dinge und aller Geister, den Allmächtigen und Allwissenden, wäre der größenmäßige und fähigkeitsmäßige Abstand zwischen einer Menschenseele und jenem Gott so unendlich groß, dass jemand, der diesen „Du-bist-Gott“-Unfug glauben würde, möglicherweise den Verstand verliert, aber auf keinen Fall auch nur im Entferntesten dieser suggerierten Rolle gerecht werden könnte. Nicht einmal in der Einbildung, denn dazu würde allein schon die Größe seiner Einbildung nicht ausreichen. Trotzdem hatte ich in der Vergangenheit manchmal das Gefühl, dass jemand genau dies andeuten wollte. Einer behauptete sogar, er selbst sei nicht nur Gott, sondern er sei auch der Teufel. Hm! Vielleicht benutzen diese Leute eine andere Definition für „Gott“?

Einen solchen anmaßenden Unsinn kann man also relativ leicht abschmettern und sich mit dem Menschsein und seinen Entwicklungsmöglichkeiten auf absehbare Zeit zufrieden geben. Falls eine Seele sich wirklich als solche höher entwickeln kann – oder zurück zu einem höheren Zustand, den sie früher einmal hatte –, so ist es mir recht und ich glaube daran und habe auch längere Phasen, in denen ich daran arbeite. Sehr ulkig finde ich die Aussage, die der Ex-Arbeitslosigkeitsminister Norbert Blüm einmal dazu traf; er sagte, die Idee, dass jemand „seine Seele verschönern“ möchte, sei ihm „unsympathisch“. Funny man! Außerdem fällt mir bei diesem Thema die australische Seherin Amitakh Stanford wieder ein, die allen Ernstes darauf besteht, dass eine Seele sich überhaupt und sowieso niemals entwickelt. Funny woman! Als ich das zum ersten Mal bei ihr las, war ich sehr erstaunt, denn auf diese Idee war ich noch nie gekommen. In einer Hinsicht ist es natürlich wahr: Das eigentliche immaterielle Geistwesen ohne Zusätze und ohne seine kommenden und gehenden Eigenschaften mag tatsächlich genau das sein, was es schon immer war und immer sein wird, und Fähigkeiten oder Seligkeiten, die ihm gegenwärtig für alle praktischen Zwecke fehlen, sind möglicherweise einfach zurzeit unbenutzt.

Es gibt noch ein paar andere kurze Formeln, die scheinbar alles klären sollen. Zum Beispiel: „Alles ist Energie.“ Das ist moderne Esoterik; der Herr steh uns bei, denn schwammiger kann es nicht mehr werden!!! Erstens einmal ist NICHT alles Energie, sondern es gibt meines Erachtens auch das ursprüngliche, absolut nichtmaterielle Sein, das reine Sein, den Urgrund, und dort tummeln sich weder Elektronen noch Neutrinos oder andere kitzlige Krabbeldinger, sondern nur ein seliges Nichts. Und zweitens ist nicht einfach ALLES Energie ohne jede Differenzierung, sondern es gibt mentale Energie, physikalische Energie, Schwerkraft, latente Energie, verfestigte Energie (Materie), strömende Energie und zahlreiche andere Phänomene; auch eine Art rein geistige Energie wie zum Beispiel Entschlusskraft oder die Beständigkeit einer Idee, ohne dass irgendein physikalisches Phänomen messbar wäre. Außerdem gibt es Raum und Zeit! Insofern ist der Satz „Alles ist Energie“ natürlich genauso informativ wie die Aussage „Alles ist relativ“, und auch genauso unrichtig, denn es gibt sehr wohl das Absolute (meine ich), aber nicht speziell in dieser materiellen Welt. Ich glaube, die Popularität des Satzes „Alles ist Energie“ entstammt einer Sehnsucht nach dem Aufgehen im Großen Ganzen, der Verschmelzung mit dem All, und darauf habe ich gar keinen Bock, denn dann wäre ich lauter Materie (verfestigte Energie) und Elektronik, und was ich wirklich will, ist meine eigene freie, geistige Individualität und ein besinnliches Ruhen im „göttlichen“ oder „weltseelenhaften“ Urgrund, nicht die Verschmelzung mit diesem ganzen Kladderadatsch da draußen. Aber, ich muss gestehen, das ist Geschmackssache.

Da es durchaus Beobachtungen gibt, die den Schluss erlauben, dass die Seele sich entwickeln kann, zum Beispiel in moralischer Hinsicht, im Einfühlungsvermögen, in der Bewältigung vergangener Ereignisse oder sogar in Form von telepathischen Fähigkeiten o.Ä., kommen manche Leute zwar nicht gerade auf die Idee, jeder sei Gott, aber doch prinzipiell zu der Auffassung „Du bist ein Gott“, oder „Gott ist in dir“, oder „Wenn es überhaupt einen Gott gibt, dann bist es wahrscheinlich du selbst.“ Da diese Menschen ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was sie mit „Gott“ meinen, müsste zuerst die Definition geklärt werden, denn sonst kann man sich nicht vernünftig darüber unterhalten, und dann sollen sie doch bitte mal einige Beispiele vorführen, wo jemand wirklich die von ihnen definierte Göttlichkeit manifestiert hat. Vielleicht bilden sie sich das ja nur ein.

Noch ein paar kernige Sprüche zu diesem Thema: • „Gott gibt es nicht.“ (Bhagwan; der Schalk) • „Gott ist tot.“ (Nietzsche; hat ihm nicht gut getan, er drehte durch.) • „Auch ich war in Arkadien.“ (Et in Arcadia ego) (Grabinschrift im Languedoc und so eine Art Codewort zwischen Angehörigen des nichtexistenten Geheimbundes Prieuré de Sion; gemeint ist die wahrhaft großartige und ungewöhnliche Weisheit „Wir müssen alle sterben“, denn Arkadien gilt als eine legendäre, zauberhafte Landschaft in Griechenland, deren paradiesische Zustände man wohl irgendwann genossen haben mag, die einem jedoch vorhersagbarerweise abhanden gekommen ist, weil es mit uns allen betrüblich bergab geht und wir am Ende trotzdem sterben müssen. Herrjemine!) • „Wir müssen alle sterben,“ oder: „Auch du wirst sterben.“ (Für manche Leute wohl eine große Weisheit, zumindest wenn sie sich die Vergänglichkeit aller „gewordenen Dinge“, so z.B. ihres Leibes, noch nicht vergegenwärtigt hatten.) • Sehr witzig ist: „Du bist die Augen, die Ohren und das Gewissen des Schöpfers des Universums.“ (Das stammt von dem amerikanischen Satire-Sciencefiction-Autor Kurt Vonnegut; die Geschichte wurde sogar mit Bruce Willis verfilmt. Handlung: Ein Autohändler, dessen seelische Gesundheit sowieso gerade auf der Kippe steht, liest in einem Roman diesen unverschämt hypnotischen Satz und beginnt danach zu handeln! Lesens- und sehenswert.)

Zugabe: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt.“ Einer meiner Lieblingssprüche; kommt aus östlichen Quellen. Die Idee ist, dass man gut daran täte, sich seiner komplexen, „einmaligen“ Persönlichkeit und seiner Anhänglichkeit an den Körper lieber schon während des Lebens zu entledigen, denn jemand, der wirklich glaubt, dass er der Körper ist, der wird als solcher natürlich sterben, weil der Körper unweigerlich sterben wird; hingegen wird jemand, der sich schon an eine Existenz als Geist gewöhnt hat, während der Körper noch lebte, also jemand, der sich zu Lebzeiten entbildlichte und quasi entkörperlichte, den Übergang ins Jenseits hoffentlich reibungsloser schaffen als der Materialist. Na, das wissen wir nicht so genau, aber der Gedanke ist interessant. Freilich wird in der Praxis auch der Typ weiterleben, der sich für einen Körper hält, aber man könnte meinen, dass er auf diese Weise eine geringere persönliche Kontinuität erleben wird. Er erwacht, langsam und nebelhaft, in einem neuen Babykörper, hat alles vergessen, was früher war, und existiert, subjektiv gesehen, zum allerersten Mal. Die Leute hingegen, die „Unsterblichkeit“ anstreben, wollen im Wesentlichen einen Zustand erreichen, der ihnen den bewussten Durchgang durch das Jenseits und ein klares Bewusstsein des eigenen immateriellen Selbst ermöglicht, sodass sie im nächsten Leben sozusagen als „Derselbe“ weitermachen können. Das hätte ich auch sehr gern.

Hm. Ich muss trotzdem noch daran arbeiten und habe jetzt das Gefühl, dass man mit diesen Vergeistigungs-Ambitionen womöglich den ganzen Sinn und Zweck des Lebens VERSÄUMEN kann und am Ende eine ärmere Seele ist als derjenige, der einfach auf Gott vertraute und zum größeren Ruhme Gottes – oder zu seinem eigenen Vergnügen – einfach das Leben gelebt hat, als das größte Fest, das es sowieso jemals geben wird. 

       Eckehard Junge, 8. Juli 2012

Copyright © 2012 Eckehard Junge

 

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