Pierre Plantard und seine Merowinger
Wie der Heilige
Gral zum Seelenporno um den hanebüchenen Thronanspruch der „Merowinger“
herabgezogen wurde
Manchmal wird ein Licht offenbar in der Seele, und der Mensch
wähnt, es sei der Sohn; doch ist es nichts als ein Licht. Denn da, wo der Sohn
offenbar wird in der Seele, da wird auch die Liebe des Heiligen Geistes
offenbar. – Meister Eckhart (1260-1328)
Um es
gleich vorwegzunehmen: Selbst wenn die Merowinger echt wären – wir brauchen keine Merowinger! Wir
brauchen eine gut unterrichtete Bevölkerung, die ihre Grundrechte kennt und
sich aktiv am demokratischen Prozess beteiligt. Wir brauchen ein
freiheitliches, demokratisches Europa mit verlässlichen, aber nicht übertrieben
zentralistischen Institutionen, und ohne Verlust der nationalen
Selbstbestimmung. Deshalb wäre es keine sehr gute Idee, sich für den Rest
seines Lebens mit den „Merowingern“ zu beschäftigen. Sicher täte uns eine
Rückbesinnung auf gediegene, traditionelle Werte gut. Wenn aber nach und nach
eine verschrobene Stimmungsmache die Oberhand gewinnt, die mit unseriöser
Geschichtsklitterung, erschreckenden Filmen und verantwortungslosen Romanen ein
religiöses Sinnbild wie den „Heiligen Gral“ auf die Ebene einer „Blutslinie“
herabzieht, als Rechtfertigung für den vagen, im Grunde rechtsradikalen
Thronanspruch einer längst versunkenen Dynastie, dann ist eine Warnung
angebracht.
Als
„heilig“ werden, wie ich schon in dem Essay
Der Sinn des Lehms erörterte,
ganz gezielt diejenigen Dinge auserkoren, auf die man einen „ewigen“,
unantastbaren Fortbestand übertragen will, der dem zur Materialität
herabgesunkenen Individuum abhanden gekommen ist. Freilich gibt es auch das
übergeordnete Heilige, nämlich das Geistige und das der Gottheit Zugehörige;
vermutlich fällt hierunter auch der Begriff der Liebe in all seinen Facetten,
wenn man so will. Auf einer verfestigten, manipulativen Ebene jedoch wird der
Begriff des Heiligen auf krude Objekte bezogen, wie etwa auf eine „Blutslinie“,
einen „Gral“ im Sinne eines bestimmten Kelches oder ein magisches Objekt. Zerrt
man den Begriff auf diese Ebene herab, kann er benutzt werden, um die Geschicke
der Menschen nach eigenem Gutdünken und zwecks eigener Machterhaltung oder
Machterweiterung zu lenken. So entsteht auf dem Wege der Massenpropaganda mit
magischen Methoden eine Art Seelenporno. (Ich sage „magisch“, weil die
übermäßige Aufwertung eines Objektes mittels Beschwörungen, Heimlichtuerei und
künstlicher Bedeutung ein typisches Verfahren der Magie ist.)
Seelenporno gibt es allerorten. Im Grunde ist es im politischen und religiösen Bereich das gleiche Prinzip wie im geschlechtlichen: Ersatz ohne eigentliche Befriedigung, Überflutung ohne tieferen Sinn, Aufgeilung ohne Freundlichkeit, Rausch ohne Weisheit, etcetera. Ob’s nun marxistische Aufsätze oder Springerstiefel sind, die an die Stelle der persönlichen Disziplin und der erheiternden Ziele treten, ob Verschwörungstheorie statt sinnvoller Unterstützung für schwergeplagte Manager und Regierungen, ob Hitler-Dokumentationen statt der Suche nach eigener Mitverantwortung, ob Astrologie statt „Sei dein eigener Navigator“, ob schmachtende Kitschprodukte statt Mut zur persönlichen Bindung und Fortpflanzung, es ist doch all das im Grunde ein Seelenporno. Und wenn jemand komplizierte Rätsel und „Geheimnisse“ in den Raum stellt, kann er weit hinaus in Raum und Zeit allerlei suchende und wissbegierige Menschen an sich fesseln, die sich von dem Thema jahrelang nicht wieder lösen und grenzenlos Zeit damit verplempern.
Natürlich
lässt sich die berechtigte Frage stellen, ob es ohne diese Dinge überhaupt
geht. „Was auch immer dir hilft, die Nacht zu überstehen“, wie es so schön
heißt! Und gegen dieses Bedürfnis ist eigentlich nichts einzuwenden. Aber die
nächste Nacht kommt bestimmt. Wer nicht nur eingelullt werden, sondern bei all
dem Propagandagetöse halbwegs durchsteigen will, sollte die aggressiveren
dieser Mechanismen einmal gründlich unter die Lupe nehmen, vor allem wenn
unsere Demokratie auf dem Spiel steht.
Wir
sprechen hier von einem simplen Schwindel mit
weitreichenden Folgen: ein einzelner Schwärmer und Möchtegern-König verbreitet
archetypische Andeutungen und akribisch zusammengesuchte, heimtückisch
verfälschte Geschichtsfetzen; einige andere seltsame Vögel schließen sich an
und pflanzen erfundene und gefälschte Dokumente in die Französische
Nationalbibliothek, so wie man seinen Unsinn heute ungefragt im Internet
verbreiten kann; wieder andere kommen hinzu und nehmen das Ganze ernst, ohne
mit ihren Bestsellern ein sonderlich hohes Verantwortungsniveau an den Tag
zu legen. Möglicherweise treten sogar ein paar echte Geldgeber und
eingefleischte Interessen auf den Plan, denen eine radikale Rückkehr zu
zentralistischen, autokratischen Herrschaftsformen am Herzen liegt; diese Leute
tun das Ihre. Die Sache wird mit zahlreichen unverständlichen „Geheimnissen“
international aufgeblasen. An den „Geheimnissen“ und „Rätseln“ bleibt der Leser
grundsätzlich kleben, weil eine Art irrationale, unselige Wissbegierde bei ihm
stimuliert wird. Und wenn die Leitmotive den Nerv der Zeit treffen, dann
breitet sich die Märchensaga über den ganzen Globus aus. Das Thema „Merowinger“
ist somit eine extrem zeitraubende Ablenkung von allen zielstrebigen und
sinnvollen Aktivitäten zur spirituellen Fortentwicklung. Aber sehr lehrreich
für angehende Datenskeptiker.
Seit
1956 wird schrittweise die etwa 900-jährige Existenz einer einflussreichen
Geheimgesellschaft namens „Prieuré de Sion“ suggeriert, obwohl sich allem
Anschein nach nur ein winziger zeitgenössischer Verein von schrulligen
Spaßvögeln so nennt, der niemals mehr als zwölf Mitglieder hatte. Freilich
haben diese Joker durch systematisches Vorgaukeln einer nichtexistenten
Geheimgesellschaft äußerst geschickt die Mechanismen ausgenutzt, mit denen eine
wirkliche Geheimgesellschaft arbeiten würde: Furcht, Verunsicherung, Lügen,
Dunkelmännertum, mangelnde Ergreifbarkeit und vorgetäuschte Omnipräsenz. Einer
dieser überdimensionalen Witzbolde, ein onkelhaft sympathisch wirkender
Franzose namens Pierre Plantard, könnte sich ohne weiteres als erfolgreichster
Lügenbaron des 20. Jahrhunderts entpuppen.
Unter Plantards Anleitung
platzierten ein paar Sonderlinge jahrzehntelang ganz gezielt eine Folge von
hintersinnigen Andeutungen und sorgfältig konstruierten Fälschungen in
Bibliotheken, Zeitungen und obskuren Schriften. Die dabei verwendeten
Ahnentafeln weisen empfindliche Bruchstellen auf, wirken jedoch historisch
eindrucksvoll, weil die erfundenen Verknüpfungen auf authentische Abschnitte
aufgepfropft sind. Überdies lehnen sich einige archaische Rätsel oder
Geheimcodes in den gefälschten „Prieuré“-Dokumenten durchaus an kryptische
Traditionen aus einer längst verflossenen Zeit an, als Tempelritter, Ketzer, Esoteriker
und sonstige Andersdenkende gezwungen waren, sich schriftlich nur in äußerst
verschlüsselter Form zu äußern, weil sie sonst auf dem Scheiterhaufen gelandet
wären. – Man kann also mit grinsender Anerkennung sagen, dass die Schwindler
ihre Hausaufgaben gründlich gemacht haben. Der kleine Kreis um Pierre Plantard
wollte im Wesentlichen den Fortbestand der Merowinger (die gemeinhin als
ausgestorben gelten) und deren Anspruch auf den französischen oder gar
europäischen Thron suggerieren; natürlich unter der bislang unwahrscheinlichen
Voraussetzung, dass die Monarchie wieder eingeführt würde. Für die „Prieuré de
Sion“ als Hüterin der „merowingischen Blutslinie“ wurde zu diesem Zweck eine
große, eindrucksvolle Organisationsstruktur und eine bis ins Hochmittelalter
zurückreichende Vorgeschichte erfunden. Eine Liste früherer Großmeister der
„Prieuré“, die allerlei große Geister wie z.B. Leonardo da Vinci, Isaac Newton
und Claude Debussy einschließt, wurde
größtenteils von einer ähnlichen Liste der Rosenkreuzer-Gesellschaft AMORC
abgekupfert. Insider wissen, dass solche Listen eigentlich nur symbolisch zu
verstehen sind und dass die so aufgeführten Koryphäen erst nachträglich zu
einer Art geistigen Ahnenreihe für eine sehr viel später gegründete Vereinigung
zusammengestellt wurden.
Sowohl
Pierre Plantard als auch seine Kollaborateure Gérard de Sède und Philippe de
Chérisey haben seitdem schriftlich und öffentlich zugegeben, dass sie in den
60er Jahren geschwindelt haben; d.h., die Dokumente, Aussagen und Stammtafeln,
um die sich seither Legenden ranken, waren gefälscht, erlogen und als bewusste
Irreführung hinterlegt worden. Der gordische Knoten dieses modernen Mythos, der
mittlerweile in den völlig konfusen, aber zur Weltsensation hochgehievten
Romanen von Dan Brown mit seinem „Da Vinci Code“ gipfelt, wurde vor kurzem von
Massimo Introvigne durchschlagen, dem Direktor des italienischen „Center for
Studies on New Religions“. Ihm gelang es, die Entstehungsgeschichte des
Lügengebäudes ganz systematisch und chronologisch an seinen Ursprung
zurückzuverfolgen und aus diesem Ballon endlich die Luft abzulassen. (Siehe The Da Vinci Code FAQ, or Will the
Real Priory of Sion Please Stand up? und Beyond The Da Vinci Code: History
and Myth of the Priory of Sion.) Am
Ende bleibt nur der schale Nachgeschmack eines gigantischen Schwindels, denn
offenbar hat ein professioneller Spinner es geschafft, seine eigene persönliche
Illusion einem immer breiteren Publikum anzudrehen, bis ein weltweiter Wahn
daraus wurde. Was ja eigentlich nichts Neues ist, aber in diesem gigantischen
Ausmaß gelingt es bei derart geringem Aufwand nur äußerst selten!
Ende der 70er Jahre bemühten sich die Autoren Lincoln, Baigent und Leigh um eine Lösung all der Rätsel, die Plantards ausgestreute Fehlinformationen aufgeworfen hatten – ausgehend von den ebenso erschwindelten „Mysterien“ um den geschichtsträchtigen Ort Rennes-le-Château im Languedoc, den Plantard inzwischen in sein Phantasiegewebe einbezogen hatte. Die Autoren nahmen als Arbeitshypothese einen Großteil des fabrizierten Materials wörtlich, versuchten die Plausibilität oder wenigstens die Denkbarkeit der Plantardschen Illusionen möglichst nachzuweisen und setzten ausführliche eigene Spekulationen hinzu; ihr 1982 erschienenes Buch Der Heilige Gral und seine Erben wurde zum internationalen Bestseller. Erst dieses zeitraubende Machwerk verknüpfte die Merowinger-Story mit der noch wilderen Hypothese, dass die Ahnenreihe der Merowinger bis auf Jesus und Maria Magdalena zurückgeht. Pierre Plantard als Möchtegern-Merowingerabkömmling soll diese stark religiös (oder antireligiös) eingefärbten Andeutungen am Ende von sich gewiesen haben, wenngleich er sich, wie es seine Art war, zunächst mit augenzwinkernder Gutmütigkeit davon schmeicheln ließ. Seitdem hat sich um diese Traumbilder ein regelrechter Kult entwickelt. Die neueste Explosion des weltweiten Wahngebildes hat Dan Brown mit seinen Romanen hervorgerufen, die nun aber völlig fiktiv und chaotisch verquirlt sind und den zeitgenössischen Hang zu Verschwörungsphantasien ausnutzen. Ziemlich unverfroren, oder gar mit pathologischem Hass, wird durch all dieses leere Getöse auch die Katholische Kirche aufs Korn genommen.
Die mehr
oder weniger fiktive Merowinger-Lobby beruft sich auf Ereignisse des frühen
Mittelalters. Um das Jahr 500 hatte die Römische Kirche mit der Dynastie der
Merowinger einen unbegrenzten Vertrag zur gegenseitigen Unterstützung
geschlossen, der für die Kirche vor allem den Vorteil hatte, dass der Arianismus
zurückgedrängt wurde (eine kolossal weit verbreitete „Ketzerei“ – siehe meinen
Artikel über
Arianismus).
Doch ab 751 n. Chr. beging die Römische Kirche Verrat an diesem Vertrag, indem
sie pragmatischerweise die Königswürde der von Hausmeiern aufgestiegenen
Karolinger anerkannte und sich somit jetzt anderweitig schützen ließ. Diese
Hintergründe sollen Karl dem Großen, der am Weihnachtstag des Jahres 800
überraschend zum „Römischen Kaiser“ gekrönt wurde, peinlich bewusst gewesen
sein. „Karl soll ebenso überrascht wie bestürzt gewesen sein. Man hatte ihn,
wie es heißt, nach Rom gelockt und dazu überredet, an einer besonderen Messe
teilzunehmen. In deren Verlauf setzte ihm der Papst vollkommen unvermutet eine
Krone auf das Haupt, während ihn das Volk als ‚Carolus Augustus, den von Gott
gekrönten, großen und friedliebenden Römischen Kaiser‘ feierte.“ (Aus: Der
Heilige Gral und seine Erben, von Lincoln, Baigent und Leigh, S. 242f.)
Der fränkische Geschichtsschreiber Einhard (770-840), einer der engsten
Vertrauten und Berater des Kaisers, berichtet in seiner Vita Karoli Magni („Das Leben Karls des Großen“): „Karl der Große
machte deutlich, er hätte die Kathedrale an diesem Tag nie und nimmer betreten
..., wenn er gewusst hätte, was der Papst im Schilde führte.“ Die Römische
Kirche traf damit freilich eine sehr pragmatische Entscheidung, denn Karl hielt
– wie schon seine Vorfahren, die Hausmeier – de facto das Heft in der
Hand, die Kirche bedurfte seines Schutzes und förderte aus machtpolitischen und
missionarischen Erwägungen Karls expansionistische Ambitionen, einschließlich
gewaltsamer Aufzwingung des Christentums in eroberten Gebieten.
Der Machtanspruch der von den Karolingern verdrängten Merowinger
soll sich nun, laut nachträglicher Geschichtsklitterung der Suggestionsmeister,
als mürrisches Gespenst bis heute durch die Geschichte gezogen haben; ein
Gespenst, das auf seine Stunde wartet, gehütet und auf Sparflamme genährt durch
all die Jahrhunderte. Es geht dabei um die Blutslinie, oder die Frage des
„Geblütes“, wie es in dem oben zitierten Bestseller Der Heilige Gral und
seine Erben heißt. Im
Original lautet der Buchtitel übrigens sehr viel unverblümter Holy Blood, Holy Grail („Heiliges Blut,
Heiliger Gral“), aber angesichts unserer Nazi-Vorgeschichte mit Blutsmythos,
Blut und Boden, Blut und Ehre und „arischem Blut“ hat die deutsche Redaktion
wohl lieber einen anderen Titel gewählt, der nicht ganz so schamlos der
Nazi-Esoterik Vorschub leistet. Leider scheint aber der faschistische
Blutsmythos wieder im Kommen zu sein; auch die Betonung der „Gene“ und ihrer
Manipulierbarkeit ist doch nur die logische moderne Fortsetzung der
historischen Fixierung auf Rasse, Blut, Abstammung oder gar „Erbgesundheit“.
Am 27.9.2004 bei Beckmann waren im Fernsehen, ganz harmlos, tatsächlich Otto von Habsburg (der Enkel des letzten österreichischen Kaisers, über Lothringen angeblich mit dem Geschlecht der Merowinger verknüpft) und Friedrich Wilhelm Prinz von Preußen (Urenkel Kaiser Wilhelms II. – dem wird keine Merowinger-Verknüpfung angehängt!) gemeinsam zu Gast, übrigens in einer Runde mit Nina Hagen und André Rieu. Es wurde keine übermäßige Reverenz getrieben, und die Herren erschienen nett und bürgerlich-demokratisch, man konnte nicht klagen. Aber sie hatten viel zu erzählen, und die Lust am Spekulieren lag denn doch in der Luft.
Eigentlich ist es ja lächerlich, diesem roten Saft, der die Farbe
von Alarmlämpchen und Feuerlöschern hat und auch bei den Adligen keineswegs
blau, sondern lediglich für den Stoffwechsel unerlässlich ist, so viel
mystische Bedeutung zuzuweisen. In Ermangelung einer wahren Geistigkeit jedoch,
also ohne Selbsterkenntnis des Geistes als Geist, wurde sinnbildlich an dieser
Flüssigkeit (oder eben, wohl verstanden, an der fleischlichen Abstammung) das
Kriterium des Machtanspruchs aufgehängt. Weshalb man dann seine Qualifikation
nicht nachzuweisen braucht, sondern lediglich geschickt manipulieren und
intrigieren muss. Heute würde man behaupten, auf die Gene komme es an (in
Wirklichkeit kommt es freilich in erster Linie auf die Kompetenz des Wesens an,
das einen weiteren Körper als Behausung bezieht; daher ist der Sohn eines guten
Königs nicht immer ein guter König). Damals jedoch war die „Blutslinie“ eine
Methode, um symbolisch Legitimät zu vermitteln, eine gewisse Ordnung
herzustellen und das stets kritische Nachfolgeproblem der Herrschaft zu lösen.
Nicht dass die alten Merowinger nun gerade ein besonders
christliches Verhalten an den Tag gelegt hätten. Die Geschichte des Hauses
Merowech ist genauso blutig wie die vieler anderer Dynastien; die Machtfrage
wurde mehrfach durch Mord im Familienkreise entschieden, und die merowingischen
Teilreiche bekriegten sich gegenseitig. Wenn das die Sippschaft sein soll, die
nach der irrelevanten Kernthese des Bestsellers Der Heilige Gral und seine
Erben direkt von Jesus oder zumindest vom Hause David abstammt, dann hat
sie sich bereits unchristlich genug verhalten. Auf jeden Fall hatten die alten
Merowinger, wenn schon nicht „heiliges Blut“, so doch mit der Römischen Kirche
einen Deal. Aber im Laufe weniger Jahrhunderte verscherzten sie ihre Macht (wie
es eben so läuft), und die Römische Kirche musste sich nach effektiveren
Beschützern umsehen, die sie durch die Symbolkraft der Krönung oder Salbung von
sich abhängig machen konnte. Man müsste nun eigentlich sagen: Schwamm drüber!
Es ist zweifelhaft, ob es noch einen lebenden Nachfahren der Merowinger gibt, der sich bewusst so nennen würde, und auch das wäre piepegal. In den europäischen Republiken ist die Aristokratie abgeschafft, und in den bestehenden konstitutionellen Monarchien wird die Nation heute durch andere Dynastien repräsentiert.
Ob nun obendrein, wie seit Lincoln, Baigent und Leigh in diesem Kontext
suggeriert wird, tatsächlich Maria
Magdalena mit etwaigen Kinderchen das Priesterkönigs-Geblüt aus dem Hause
David, einer alten Legende nach in Marseille anlandend, als konkreten „Gral“
ins Languedoc gebracht hat; und ob sich ihre Nachkommen, von der großen
jüdischen Gemeinde dort sorgsam gehütet, schließlich und endlich mit den
Merowingern vermählten und so im frühesten Mittelalter den Anspruch auf einen
Thron erhärten konnten – das wird unweigerlich Spekulation bleiben. Nach meiner
Einschätzung ist dies nur eine hinterlistige, fadenscheinige Andeutung. Der
„Gral“, als Legendenstoff eigentlich ein geistiges Symbol, wird von
Propagandisten in eine materiell fixierbare Blutslinie gebannt, um ihn so für
die eigene Machtpolitik umherschieben und nutzen zu können.
Es ist
ein geschickt angezetteltes, irrationales, aber inzwischen sehr verbreitetes
Gemurmel zugunsten einer Monarchie mit einem vagen religiösen Anspruch. Man
sollte das als antidemokratische Stimmungsmache in bedrängten Zeiten klar
erkennen. Gleichzeitig gehen zahlreiche Menschen in ihrem spirituellen Streben
dem blinkenden, manipulativen Phosphorgespinst der phantomhaften „Prieuré de
Sion“ ins Netz, indem sie jahrelang herumrätseln, ohne bei diesem Thema etwas
Brauchbares lernen zu können. Also ein Seelenporno
unreinsten Wassers.
* * * * *
Um die
machtpolitischen Hintergründe des Mittelalters ganz zu verstehen, sollte man
wissen, dass die Römische Kirche um 750 nicht nur die Merowinger fallen ließ
(die de facto sowieso schon
entmachtet waren), sondern mithilfe des Schwindeldokuments der Konstantinischen Schenkung
auch ihren Herrschaftsanspruch als „Statthalter Christi auf Erden“ und als
globale Ernennungsbehörde zu untermauern begann. Selbst der Brockhaus (Der Brockhaus in
Text und Bild, Edition 2002, PC-Version) bestätigt,
dass diese Urkunde, die Donatio
Constantini, „nach der Konstantin der Große den
Vorrang Roms über alle Kirchen anerkennt und dem Papst die Herrschaft über Rom
und alle abendländischen Provinzen zugesteht“, im 15. Jahrhundert als
Fälschung erkannt wurde. Die Römische Kirche benutzte dieses Lügengebilde in
ihren Auseinandersetzungen mit dem Kaisertum jahrhundertelang zur Legitimierung
päpstlicher Herrschafts- und Besitzansprüche. Es war also vonseiten der Kirche
keine Anbiederung, sondern lediglich einer der Programmpunkte eines sorgsam
kalkulierten Herrschaftsanspruches, als sie ihre Gunst den Karolingern
zuwandte.
Eine ursprünglich tragische Figur macht in diesem Gesamtmythos ein
gewisser Dagobert; heute regt er mich eher zu populistischen Scherzen an. Der
Name ist uns in Deutschland am ehesten durch Dagobert Duck bekannt, den
steinreichen, jähzornigen Geizkragen von Entenhausen. Dagobert II. war der
letzte regierende Merowinger-König; am 23. Dezember 679 wurde er im Alter von
28 Jahren ermordet. Danach waren die Merowinger endgültig Schattenkönige, denn
in Wirklichkeit regierten die Hausmeier, die 751 offiziell in den Königsrang
aufstiegen.
(Als Laienhistoriker
habe ich inzwischen keine Lust mehr, auf die Lebensgeschichte Dagoberts II.
einzugehen, denn jede Quelle erzählt mir etwas anderes darüber, und wie ich
schon sagte, sind die Merowinger eigentlich irrelevant! Aber das idyllische
Entenhausen mit Dagoberts Geldspeicher fungiert heute als eine Art
phantastisches Paralleluniversum, nicht wahr? Denn da hat Dagobert auf
finanziellem Wege die Macht „zurückerobert“, die ihm seinerzeit brutal
entrissen wurde. Man schaue sich die Namen näher an: In dänischen
Donald-Duck-Heftchen heißt unser resoluter Onkel Dagobert tatsächlich „Onkel
Joakim“, und „Joakim“ ist auch Name eines dänischen Prinzen – dessen Vater,
Henri de Montpézat, besser bekannt als Prinzgemahl Henrik, nach einer Andeutung
von Pierre Plantard die Merowinger in seine Ahnenkette einreiht, sodass die
dänischen Prinzen und ihre ganze weitere Nachkommenschaft künftig zu den
Merowingern zu zählen wären.
Nur so als irrelevantes Streiflicht, weil wir gerade bei
Disney-Produkten sind: Meditieren Sie zum Beispiel mal über „Daniel
Düsentrieb“. Diese Namen sind genial gewählt. „Düsentrieb“, urdeutsche
Wortelemente als Ingenieursname, erinnert mit seinen „Düsen“ an Raketentechnik,
ein deutsches Forschungsprojekt, ohne dessen Technologie die Sowjets und die
USA nur schwerlich das Bedrohungsszenario des Kalten Krieges hätten aufstellen
können. Und „Trieb“ ist doch eh schon gut. Aber gleichzeitig „Daniel“, um die
traditionelle jüdische Komponente des deutschen Genius zu wahren. Dem gegenüber
steht im Micky-Maus-Universum z.B. „Kater Carlo“, offenbar Italiener,
Nachfolger des Römischen Reiches, in Gestalt einer Art schwarzhaarigen Mafia.
Ich glaube, das ist noch ein reichhaltiges Studienfeld für symbolisch
aufgeilbare Scherzkekse. Und man muss auch ein bisschen herumalbern, um den
ganzen vorgeschützten Ernst dieser Erwägungen zu durchlöchern. Die
Merowinger-Blase ist schlicht und einfach eine
Art „geiler Sumpf”, eine Art antidemokratisches Opium, wobei der Leser vor
allem an den zahlreichen, komplizierten und völlig unnötigen „Geheimnissen“
sowie an allerlei Räuberpistolen und kaum verhohlenen Drohungen hängenbleibt.)
Was übrigens die nachhaltigen politischen Nutzwirkungen der
Dagobert-Beseitigung und der Schwindelurkunde „Konstantinische Schenkung“
betrifft, offenbart sich die ungeheure Machtfülle der Kirche sehr plastisch in
dem folgenden Bericht über die Bannung des Kaisers Friedrich II. auf dem Konzil
von Lyon 1245 (zitiert aus einer Fußnote bei Johannes Bühler, Die Kultur des Mittelalters, Alfred
Kröner Verlag, Leipzig 1931, Seite 45f.): „Die vor der ganzen
Kirchenversammlung verlesene Bannsentenz schlug wie der Blitz ein und rief
einen ungeheuren Schrecken hervor. Der Meister Thaddäus von Suessa und die
übrigen Vertreter des Kaisers brachen mit ihrem Gefolge in laute Klagerufe aus,
schlugen zum Zeichen ihres Schmerzes auf Schenkel und Brust und konnten sich
nur mit Mühe der hervorbrechenden Tränen erwehren ... Der Herr Papst aber und
die anwesenden Prälaten verfluchten, die angezündeten Kerzen in der Hand, den
Kaiser, der nicht mehr Kaiser zu nennen sei, schrecklich und furchtbar, während
dessen Sachwalter bestürzt die Versammlung verließen.“ (A.a.O. zitiert aus
Matthäus Parisiensis Chronica maiora, Mon. Germ. SS. XXVIII. S. 267.)
Fröhliches Mittelalter, und einige Propaganda-Drahtzieher von
heute scheinen sich nach einer Rückkehr zu veralteten, ja sogar noch älteren Paradigmen zu sehnen. Der
geneigte Leser ist aufgefordert, Augen und Ohren offenzuhalten, damit wir nicht
in ein irrationales Herrschaftssystem zurückfallen. – Oder aber, wir betrachten
es von der lächerlichen Seite, wie es eigentlich angebracht wäre: wir
sollten uns diese Leute auf den Pullover aufkleben, als Colabecher- und
Popcornhalter an der Rückenlehne des Vordermanns benutzen und Mero-Weihnachtsmänner
und Mérotique-Clubs aufziehen, und am besten sollten wir den ulkig zerfurchten,
pseudocharismatisch-glutäugigen Onkel Pierre Plantard als
schlangenkünstlerische Micky-Maus-Gummifigur herausbringen, so wie in den 60er
oder 70er Jahren Goofy & Co. vermarktet wurden.
Der
hierfür geeignete Nährboden in der heutigen Welt lässt sich am Beispiel eines
Zitats aus Terminator II, Tag der Abrechnung ablesen, gesendet am
Pfingstsonntag 2006 bei RTL: „In einer wahnsinnig gewordenen Welt war er die vernünftigste
Alternative.“ Genau so FÜHLTE SICH vielleicht Pierre Plantard, als er in
jahrzehntelanger Kleinarbeit seine wunderbar skurrile Geschichte von der
Prieuré de Sion aus der Taufe hob. Siehe dazu den Forumsbeitrag eines gewissen
JahMarengo
über Pierre Plantard im Rasta-Forum am 7. Mai 2005. Falls Sie sich von der
Seifenblase haben einfangen lassen, die Dan Brown neuerdings mit seinem fiktiv
verquirlten Sakrileg/Da-Vinci-Code in die Welt gesetzt hat, wäre diese kurze
Lektüre sogar sehr zu empfehlen. Ich bin ja bereits mit der vorliegenden Abhandlung
und in einem noch umfangreicheren E-Buch-Kapitel unter dem Titel
Der Mythos der Prieuré de Sion - Pierre
Plantard erfindet eine Geheimgesellschaft [externer Link] sehr gründlich auf dieses
Thema eingegangen.
Bedenklich, aber nicht erstaunlich ist die
Nachricht vom ungeheuren Erfolg der doppelt und dreifach faktenfremden
Verdrehung des wunderlichen Plantardschen Traumgespinstes, die sich der
Schriftsteller Dan Brown erlaubt hat:
„Trotz
teilweise vernichtender Kritiken hat der Thriller The Da Vinci Code - Sakrileg einen der erfolgreichsten Kinostarts aller
Zeiten hingelegt. Am Startwochenende spielte der 125 Millionen Dollar (rund 98
Millionen Euro) teure Streifen rund um den Globus 224 Millionen Dollar ein, wie
der Branchendienst Exhibitor Relations mitteilte. Damit schaffte der Film mit
Tom Hanks und Audrey Toutou in den Hauptrollen das viertbeste Startwochenende
aller Zeiten.“ (www.gmx.net am 22.5.2006)
Was soll das Ganze? Jesus ist ein Geistwesen, wie
Du und Ich Geistwesen sind, jeder auf seine eigene Art und in seiner eigenen
Größe. Er sollte nicht auf eine Blutslinie reduziert und so in dieses relativ
krude physisch-physikalische Universum herabgezogen werden, wo er oder seine
Story dann für seltsame mythologisch-politische,
monarchistisch-verfassungsfeindliche Manipulationen und kollektive Irreführungen
missbraucht wird. Etwaige Abkömmlinge – wenn es sie nachweislich gäbe – wären
nicht im Entferntesten als Träger Seiner
Qualität anzusehen, denn diese stammt nicht aus den Körpern und deren
genetischen Merkmalen, sondern aus der Wesenhaftigkeit der einmaligen Seele.
Somit käme ihnen keinerlei Bedeutung bei, und schon gar nicht ein
Herrschaftsanspruch. Den haben allein die demokratisch gewählten Regierungen.
Oder wollt ihr die totale Unmündigkeit? Gibt es da jemanden, der sie euch
aufschwatzen will? Hm? All ihr verkappten Royalisten und mystischen
Königsmacher: Seid ihr verantwortungsmüde? Informationsmüde? (Denn wer nicht
mehr an die Wahlurnen gehen muss, braucht sich nicht mehr zu informieren? Und
wer steigt überhaupt noch durch?)
Was aber sogar der Papst in seiner
Weihnachtspredigt 2005 mit vorsichtigen Formulierungen anzudeuten begann, ist
die Tatsache, dass jeder von uns das Göttliche in sich trägt und in diesem
Sinne als „Sohn“ oder „Tochter“ des Höchsten gelten kann. Das ist Mündigkeit und eine gesunde Grundlage
der Verantwortung.
Eine gewisse Unmündigkeit und
Verantwortungslosigkeit hingegen zeigt sich an mangelndem Tiefgang bei
gleichzeitiger Wichtigtuerei. Da hätte ich ein hübsches Zitat über Dilettanten
– sehr relevant für den Kontext von Prieuré de Sion, Da-Vinci-Code, Pierre
Plantard, Maria Magdalena und Rennes-le-Château:
„Er [der Dilettant] nimmt das Dunkle
für das Tiefe, das Wilde für das Kräftige, das Unbestimmte für das Unendliche,
das Sinnlose für das Übersinnliche.“
(Friedrich Schiller)
So
sieht die Sache doch aus. Und je länger man an diesem Thema arbeitet, dem ich
Anfang 2007 auch ein ganzes Buchkapitel im Rahmen meiner Untersuchung
verschiedener Geheimnisse der Menschheit gewidmet habe, um so deutlicher treten
die Banalität, die Verwirrspiele und der Schwachsinn zu Tage. Nichtsdestoweniger ist der Lebenslauf
des Lügenbarons Plantard ein wunderbares Paradebeispiel für pseudo-esoterische
Entartung und für die Nemesis des Großen Lügners, und somit auch eine
aufschlussreiche Analogie zum Charakter des 20. Jahrhunderts.
Erfreulicherweise hat Jean-Luc Chaumeil, offenbar
der letzte überlebende Mitverschwörer bei der Vorspiegelung des nichtexistenten
Zions-Priorats, in einem Interview 2006 den Hinweis geliefert, dass Plantard
eigentlich Priester hatte werden wollen und es leider nur bis zum Küster
brachte. Dann habe er seinen Glauben gänzlich verloren. Das ist hübsch, das
erklärt einiges. Wenn Plantard mal eine Kirche besuchte und einen leibhaftigen
Priester sah, dann wurde er, wie Chaumeil uns erzählt, gleich sehr laut und
geriet anschließend in helle Auflösung. Albern, oder? Und noch was: Das
Original-Rätsel, das gefälschte Pergament mit dem sinnlosen
Entschlüsselungsergebnis über Dagobert und den angeblichen Schatz von
Rennes-le-Chateau („Dieser Schatz gehört König Dagobert II. und dort liegt er
tot“), war ein absolut AUS DEM NICHTS heraus geschaffener, SURREALISTISCHER
Scherz des Fälschers, ohne jeden Sinn und ohne jeden Zweck, sozusagen ein
hyper-enzensbergerischer Nonsensvers, und darüber zerbrechen sich jetzt
Millionen Möchtegern-Esoteriker seit Jahrzehnten die Köpfe.
Interessant sind auch Pierre Plantards Aktivitäten
im Zweiten Weltkrieg, vornehmlich die Gründung einer nationalistischen Gruppe
namens Alpha Galates. Ob er diese Gruppe wirklich selbst gegründet hat oder ob
er nur von Hintermännern vorgeschoben wurde, lässt sich anhand der verfügbaren,
oft widersprüchlichen Quellen nicht sicher feststellen. Nach Auffassung des
esoterisch geprägten Autors Robert Richardson soll Alpha Galates bereits 1934
bestanden und seit Ende der 30er Jahre Pierre Plantard als nominelles Oberhaupt
eingesetzt haben. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Rückversetzung von
Alpha Galates in die 30er Jahre jedoch um eine weitere schamlose Flunkerei von
Pierre Plantard. Denn nach Angaben von Massimo Introvigne vom „Center of
Studies on New Religions“ (CESNUR) in Italien hat Pierre Plantard 1942 Alpha
Galates selbst gegründet und eine sehr komplexe Vereinssatzung dafür
ausgearbeitet, deren Datum er ganz unverfroren auf 1937 vorverlegte. (Das ist
der numerologische Tick Plantards, nämlich eine umkehrende Anspielung auf das
Jahr 1793, als in Frankreich die royalen Köpfe rollten, und sein perfider Trick
der Irreführung durch Fehldatierung,
eine Methode, mit der man gewissenhafte Rechercheure scharenweise beschäftigt
hält und an den Rand des Wahnsinns treibt.) Neben den üblichen monarchistischen
und rechtsradikalen Ideen errichtete er für dieses Phantasiegebilde ein
quasi-freimaurerisches, aber sicherlich hohles Einweihungssystem in zwölf
Graden, dessen Gipfel die „Druidische Majestät“ bildete, ein Titel, der einer
einzigen Person vorbehalten war – nämlich Pierre Plantard selbst. Man sieht,
dass er bereits als 22-Jähriger den Mund reichlich voll nahm.
Und, äh, kennen Sie Pataphysik? Nein? War mir auch
neu. Es ist jedoch ein Denksystem, das im 20. Jahrhundert recht einflussreich
wurde und auch zur Entstehung des Prieuré-Mythos einiges beigetragen hat.
Philippe de Chérisey, einer der Hauptkomplizen Pierre Plantards und Urheber der
bedeutendsten gefälschten Dokumente am Ursprung der erfundenen Prieuré, war
Surrealist und Mitglied des 1948 gegründeten Collège de Pataphysique.
Hier eine Definition der „Pataphysik“:
Pataphysik: ein absurdistisches Philosophie- und Wissenschafts-Konzept, das auf
den französischen Schriftsteller Alfred Jarry (1873-1907) zurückgeht. Methodik und Denkweise der modernen
Wissenschaft werden dabei häufig auf ganz unsinnige Weise parodiert. Nach Jarry
ist Pataphysik die Wissenschaft des Partikulären, also des besonderen
Einzelfalls. Diese provokante Auffassung steht im Gegensatz zur gängigen
Definition nach Aristoteles, dass Wissenschaft sich immer nur mit dem
Allgemeinen beschäftigen könne. Normalerweise spricht man von „Physik“ und
„Metaphysik“, wobei Physik im weitesten Sinne Naturlehre ist und Metaphysik
sich mit Dingen befasst, die jenseits der sinnlich erfahrbaren, natürlichen
Welt liegen, also zum Beispiel mit einer Glaubenslehre oder abstrakten
Kategorien. Die Pataphysik hingegen ist nach Jarry „die Wissenschaft von dem,
was zur Metaphysik hinzukommt – sei es innerhalb, sei es außerhalb ihrer selbst
– und die sich ebenso weit jenseits dieser ausdehnt wie diese jenseits der
Physik“. Die Pataphysik stehe somit zur Metaphysik wie die Metaphysik zur
Physik. Jarry definierte die Pataphysik als die Wissenschaft der imaginären
Lösungen, „welche die Gesetzmäßigkeiten der Ausnahmen untersuchen wird und das
Universum erklären wird, welches das hiesige ergänzt“. In der Pataphysik wird
jedes Ereignis im Universum als außergewöhnliches Ereignis akzeptiert. (Angelehnt
an Angaben in der freien Enzyklopädie Wikipedia)
Im philosophischen oder
esoterischen Bereich erfindet die Pataphysik unter umgekehrten Vorzeichen ein
Paralleluniversum, das an die Stelle der bekannten Welt treten könnte. Unter
besonders „günstigen“ Voraussetzungen genügt aber schon eine kleine Portion
bewusst gebrauchter Absurdität, um in die üblichen logischen oder
metaphysisch-religiös genormten Denkmuster so viel Verwirrung einzuspritzen, dass
ein ganzes traditionelles Muster, eine ganze Matrix an Übereinstimmungen aus
dem Gleis gerät. Das kann natürlich um so leichter passieren, wenn die
alteingesessenen Überzeugungen ihrerseits auf irgendeiner ursprünglichen
Absurdität beruhen oder ein mühselig mit allerlei Geheimnissen aufrecht
erhaltenes Lügengebäude sind. Offenbar geht es darum, ins große, gewaltige
Getriebe der menschlichen Vernunft, die sich mit unentrinnbarer Logik und
Kausalitätsgläubigkeit zuweilen als widerwärtiges Gefängnis entpuppt, ein Stück
Nonsens hineinzuwerfen, eine kleine Dosis blanken Unsinn, der weit verzweigte
Folgen nach sich zieht. Man könnte die Pataphysik somit auch als die Kunst des
folgenreichen oder folgenschweren Blödelns bezeichnen.
Diese Methodik der Realitätsveränderung fand nicht
nur in den gefälschten Rätselpergamenten der Prieuré de Sion, sondern vor allem
während der 60er Jahre in verschiedenen Kunstformen, ja zum Teil sogar in der
Lyrik der Beatles praktische Anwendung.
Ein typisches Beispiel für angewandte Pataphysik
sind die gefälschten „Pergamente“ am Ursprung des
Mythos
der Prieuré de Sion:
Das zweite große „Pergament“-Geheimnis aus der Feder de
Chériseys, das dem Dorfpriester Saunière untergeschoben wurde, war sehr viel
schwerer zu entschlüsseln und manifestierte sich, man höre und staune, in einem
noch verrückteren Klartext, ohne Punkt
und Komma, dessen wohlwollend
gegliederte Übersetzung lautet: „Schäferin, keine
Versuchung. Dass Poussin, Teniers den Schlüssel besitzen; Friede 681. Beim
Kreuz und diesem Pferd Gottes beende – oder zerstöre – ich diesen Dämon von
Wächter zu Mittag. Blaue Äpfel.“ (Lincoln/Baigent/Leigh, Der Heilige Gral und seine Erben, S. 23) Das ist meisterhafter Schwachsinn,
direkt aus dem Höllenpfuhl extremster ’Pataphysik, und gab Anlass zu einer
endlosen Fülle an Interpretationen, die jeden Forscher auf neue Irrwege führten
und eine gebannt mitlesende Öffentlichkeit in immer größere Verwirrung
stürzten. Man bedenke, dass vonseiten der ’Pataphysik auch schon die unsinnige
und blasphemische Forderung aufgestellt wurde, man solle „die Oberfläche Gottes
berechnen“. Die „blauen Äpfel“ sind sicher die Krone der Schöpfung; da der
französische Text völlig ungegliedert ist, könnte mit dem Wort midi statt „Mittag“ auch „Süden“ gemeint
sein, und wenn die Satzzeichen anders gesetzt werden, käme „im Süden blaue
Äpfel“ dabei heraus. Die Autorin Monika Hauf will aus diesem „Hinweis“
herauslesen können, dass eine Schatzsuche im Süden Frankreichs vergeblich sein
müsse, denn blaue Äpfel gebe es ja gar nicht. So versucht jeder aus dem Irrsinn
ein bisschen Klugheit abzuleiten, anstatt zu verstehen, dass da absolut nichts zu holen ist, weil es
eben vorsätzlicher Irrsinn ist. Und
gerade das ist so schwer zu verstehen.> (Eckehard Junge, Der Mythos der
Prieuré de Sion, April 2007)
Was könnte man sonst noch dazu sagen? Interessant ist, dass es nichtsdestoweniger
eine „unendliche Geschichte“ bleibt. Alles, was
mit der nichtexistenten „Prieuré de Sion“ zu tun hat, spinnt sich wie verrückt
weiter fort, selbst wenn man zehnmal bewiesen hat, dass es diesen Verein bis
auf ein klitzekleines Häufchen von Spaßvögeln gar nicht gibt. Und nach
Redaktionsschluss tauchte sogar der Hinweis auf, Pierre Plantard sei in Wirklichkeit
ein Alchimist gewesen. Das leuchtet irgendwie ein.
– Eckehard Junge
Eine weitere einzelne Änderung:
20. November 2005
Anfügung späterer Notizen (etwa
4 Seiten) am 29. September 2007
Dazu ein kleines Spottgedicht aus meiner
vielseitigen Versschmiede:
Wir sind die Prieuré de Sion
Und machen uns über euch lustig
Denn euer Dasein entwickelt sich doch
In Ermangelung eines seltsamen Kicks
Gemeinhin überaus frustig,
Und ungeachtet der pfiffigsten Tricks
Pfeift ihr schon bald aus dem letzten Loch.
Wir sind die Urkundenfälscher vom Dienst
Und beweisen, wie sinnlos doch alle Beweise
Einschließlich unserer eigenen sind,
Denn schwer zu ergründen bleibt allemal
Das Ziel eurer letzten großen Reise
Und unbeweisbar wie unwiderlegbar
Die Nachkommenschaft vom Jesuskind.
– Eckehard Junge
Sehr
viel mehr zum Thema Pierre Plantard und Prieuré de Sion erfahren Sie in meiner
ausführlichen Biographie des sagenhaften Lügenbarons Pierre Plantard,
erschienen im Rahmen eines E-Buchs bei Co-Art Publications:
Der Mythos der Prieuré de Sion -
Pierre Plantard erfindet eine Geheimgesellschaft.
Siehe hierzu außerdem meine
Gedichte:
Mitschurkig sind die Heinzelmännchen
Copyright ©
2005, 2006, 2007 Eckehard Junge