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RÄTSEL DER MENSCHHEITSGESCHICHTE

ATLANTIS: MYTHOS ODER WIRKLICHKEIT?

Platon beim Wort genommen

 

Ein Traumbild aus grauer Vorzeit

Im Frühjahr 1969 stürmte Donovans wunderbarer Softie-Sprechgesang Atlantis die Hitparaden. Mit diesem Song wurde ein ewig junges Thema neu beschworen: die Sage vom versunkenen Kontinent, der alles überragenden Hochkultur in grauer Vorzeit, deren Sendboten in die Welt hinausgingen, um Weisheit, Kultur und Wissenschaft zu bringen.

„Der Kontinent Atlantis“, so sprach Donovan, „war eine Insel, die vor der Großen Flut in dem Gebiet lag, das wir heute den Atlantischen Ozean nennen. So groß war dieses Land, dass von seiner westlichen Küste die stattlichen Seeleute in ihren Schiffen unter bemalten Segeln mit Leichtigkeit nach Süd- und Nordamerika reisten. Im Osten war Afrika ein Nachbar, jenseits einer Meerenge von wenigen Seemeilen. Das große Zeitalter der Ägypter war nur ein Überbleibsel der atlantischen Kultur. Die vorsintflutlichen Könige kolonisierten die Welt. All die Götter, die in den mythologischen Dramen sämtlicher Sagen aus allen Ländern auftreten, stammten aus dem schönen Atlantis. Im Bewusstsein seines Schicksals entsandte Atlantis Schiffe in alle Winkel der Erde. An Bord waren die Zwölf: der Dichter, der Arzt, der Landwirt, der Wissenschaftler, der Zauberer und die anderen sogenannten Götter unserer Sagen. Doch Götter waren sie wohl – und während die Älteren unseres Zeitalters lieber blind bleiben, wollen wir jubeln und singen und tanzen und das Lob des Neuen erschallen lassen! Heil Atlantis!“

Viele, die heute zu den Älteren zählen, haben es damals gehört. Mögen ihnen auch einige Worte des Englischen entgangen sein, allein schon das poetische Stimmungsbild mit dem nachfolgenden Chorgesang setzte ein deutliches Zeichen für einen neuen Aufbruch. Donovans Zusammenfassung enthielt wahrlich den Kern des zeitlosen Mythos, der wie ein mächtiger Regenbogen die Menschheitsgeschichte überspannt. Auch Platon hätte zustimmend genickt und sich vielleicht eine Träne aus dem Auge gedrückt, denn dieses moderne Lied stimmte in den wesentlichen Folgerungen mit seinem Bericht überein.

In ferner Vergangenheit lassen sich ebenso schöne Luftschlösser bauen wie in ferner Zukunft, und das Ideal gewinnt an Überzeugungskraft, wenn es sich früher bereits verwirklichen ließ. Leider ist das leuchtende Beispiel in Zeit und Raum verschollen; Utopia, verklärt und besungen, ist untergegangen. Der Sage nach verschwand Atlantis in einer gewaltigen Katastrophe unter den Wellen des Ozeans. Eine Utopie jedoch, die auf älteste Sagen gegründet ist, schlägt eine Brücke aus fernster Vergangenheit in fernste Zukunft. Darin liegt ihre Macht.

In unsicheren Zeiten wirkt indes die magische Faszination der Untergänge, seien es die Dinosaurier, Pompeji oder die letzten Tage im Bunker der Reichskanzlei, besonders eindringlich auf das Bewusstsein der Menschen. Aufgeputscht durch unzählige Sinneskitzel aus den Medien vergessen wir oft die konstruktive Frage nach dem Aufbau, die geduldige Suche nach Rezepten für eine erfolgreiche Zivilisation oder das sorgsame Ausforschen der Ursprünge und Hintergründe. Nach den Enttäuschungen des 20. Jahrhunderts begegnen wir großen Idealen mit einiger Skepsis; dennoch dient gerade Atlantis auch als Hoffnung und unverzichtbares Traumbild.

 

Platon als Quelle und Platons Quellen

Keine einzige bemooste Säule, gewiss kein abgestürztes prähistorisches Flugobjekt und nicht einmal eine schäbige kleine Münze belegt die physische Existenz von Atlantis. Wir haben da nichts, aber auch gar nichts vorzuweisen. Kein Ort wurde gefunden, keine Zeit bestimmt, denen Atlantis verlässlich zuzuordnen wäre, und dennoch gibt es inzwischen mehr als 20.000 Bücher und Schriften über Atlantis. Diese ungeheure Flut an spekulativen Werken zeigt, wie sehr die Phantasie der Menschheit durch die gerade mal 15 Seiten umfassenden Berichte beflügelt wurde, die der griechische Philosoph Platon (428-348 v. Chr.) um 360 v. Chr. niederschrieb. Denn allein auf Platons Angaben beruht die konkrete Überlieferung aus dem Altertum.

Niemand außer Platon scheint diese Dinge gewusst und aufgezeichnet zu haben, und sein Schüler Aristoteles vertrat die Auffassung, Platon habe Atlantis frei erfunden. Das Christentum stützte sich in wissenschaftlichen Fragen auf Aristoteles; damit war das Thema Atlantis lange Zeit passé. Zudem widersprach die Datierung des Geschehens in das Jahr 9600 v. Chr. der damaligen christlichen Lehrmeinung, die den Anfang der Welt gemäß dem Alten Testament auf das Jahr 5508 v. Chr. festgesetzt hatte; eine Hochkultur „vor der Erschaffung der Welt“ war somit unerwünscht. Erst seit dem 16. Jahrhundert wurde das Atlantis-Motiv wieder aufgegriffen, und zwar in Form von Utopien, Spekulationen und querfeldein galoppierenden Abwandlungen, ohne dass konkretes neues Beweismaterial aufgetaucht wäre, das eindeutig Platons Atlantis zuzuordnen wäre.

Wir sollten also Platons Bericht näher unter die Lupe nehmen. Als Philosoph war Platon bemüht, die Frage nach dem Guten und der Gerechtigkeit in den Kontext gesellschaftlichen Handelns zu stellen. Er legte seine Lehre nicht in systematischen Abhandlungen, sondern in Form von Dialogen dar, die für den Laien verständlich sein sollten. Zur Veranschaulichung griff er häufig auf Sagen und Mythen zurück, mit denen er jedoch sorgsam umzugehen pflegte. Von Atlantis ist nur in den Dialogen Kritias und Timaios die Rede. In der typischen Form eines fiktiven (d. h. erfundenen) Gesprächs unterhalten sich einige wohlhabende Athener Bürger (Kritias, Timaios, Hermokrates und Sokrates) über Themen wie Alter, Reichtum und Gerechtigkeit. Die ursprüngliche Kernfrage ist, ob das Recht des Stärkeren gelten soll oder ob der Staat für Gerechtigkeit sorgen muss. Der im Gespräch anwesende Sokrates meint, für einen idealen Staat gebe es kein konkretes Beispiel. Daraufhin erzählt Kritias, er wisse von einem solchen Staat; sein Großvater habe diese „seltsame, aber durchaus wahre Geschichte“ in seiner Jugend von dem athenischen Staatsmann Solon gehört, der ein Freund der Familie gewesen sei. Solon (ca. 640 bis 560 v. Chr.), einer der sieben Weisen der Antike, sei auf einer Ägyptenreise in die damalige ägyptische Hauptstadt Sais im Nildelta gekommen. Sais war seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. die Hauptverehrungsstätte der Göttin Neith (Totengöttin und Göttin der Jagd; galt als „Urmutter der Götter“) und zur Zeit Solons die Residenz der 26. Dynastie. Dort hätten die Priester des Tempels der Neith (Neth) dem Solon eine in Hieroglyphen festgehaltene Geschichte über Atlantis erzählt.

So viel zur Quellenangabe dieser Informationen bei Platon. Der erste Kommentator Platons, ein gewisser Krantor (330–275 v. Chr.), soll später persönlich in Sais gewesen sein; er berichtet, er habe im Tempel der Neith eine mit Hieroglyphen beschriftete Säule gesehen, die in der Tat die Geschichte von Atlantis beschrieb. Das jedoch ist der letzte antike Beleg für diese Überlieferung. Der Tempel wurde schließlich von den Römern zerstört.

 

Vorsintflutliche Weltmächte

Welche Botschaft überliefert uns Platon? Die wohl bekannteste Textstelle, als Erklärung eines ägyptischen Priesters formuliert, lautet:

„Von vielen großen Taten, die ihr [die Griechen] und eure Stadt [Athen] vollbracht habt, liest man hier mit Bewunderung; doch eine ragt unter allen durch ihre Größe und Heldenhaftigkeit hervor. Die Aufzeichnungen berichten nämlich, wie eure Stadt einst einer gewaltigen Macht [Atlantis] das Ende bereitet hat, als diese vom Atlantischen Meer aufgebrochen war und in ihrem Übermut gegen ganz Europa und Asien zugleich heranzog. Damals konnte man nämlich das Meer dort noch befahren; denn vor der Mündung [Meerenge], die ihr in eurer Sprache die Säulen des Herakles nennt [Gibraltar], lag eine Insel, und diese Insel war größer als Asia [Kleinasien] und Lybia [das damals bekannte Nordafrika] zusammen. Von ihr gab es für die Reisenden damals einen Zugang zu den anderen Inseln, und von diesen auf das ganze Festland gegenüber rings um jenes Meer, das man wahrhaft so bezeichnen darf. Denn alles, was innerhalb der erwähnten Mündung liegt [das Mittelmeer], erscheint wie eine Hafenbucht mit einer engen Einfahrt; jenes aber [den Atlantik] kann man wohl wirklich als ein Meer und das umschließende Land in Tat und Wahrheit und in vollem Sinne des Wortes als ein Festland bezeichnen.

Auf dieser Insel Atlantis nun gab es eine große und bewundernswerte Königsherrschaft, die sowohl über die ganze Insel als auch über viele andere Inseln und über Teile jenes Festlandes ihre Macht ausübte; zudem regierten diese Könige auf der gegen uns liegenden Seite über Lybia, bis gegen Ägypten hin, und über Europa bis nach Tyrrhenien [Toskana in Italien].

Diese ganze Macht also versammelte sich einst zu einem Heereszug und machte den Versuch, sich das ganze Gebiet bei euch und bei uns und alles, was diesseits der Mündung liegt, in einem einzigen Ansturm zu unterjochen. Damals nun, o Solon, wurde die Kraft eurer Stadt mit ihrer Tüchtigkeit und Stärke vor allen Augen sichtbar; sie tat sich vor allen anderen durch ihren Mut und durch ihre Kriegskunst hervor, und so stand sie zuerst an der Spitze der Griechen; als dann aber die anderen abfielen und sie notgedrungen auf sich allein gestellt war und dadurch in die äußerste Gefahr geriet, da zeigte sie sich den herannahenden Feinden überlegen und konnte ein Siegeszeichen errichten; jene, die noch nicht unterworfen waren, bewahrte sie vor der Unterwerfung, und uns anderen allen, die wir diesseits der Säulen des Herakles wohnen, schenkte sie großzügig die Freiheit wieder. In der darauf folgenden Zeit aber gab es gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen; es kam ein schlimmer Tag und eine schlimme Nacht, da eure ganze Streitmacht mit einem Male in der Erde versank, und ebenso versank auch die Insel Atlantis ins Meer und verschwand darin. Deswegen kann man noch heute das Meer dort weder befahren noch erforschen, weil in ganz geringer Tiefe der Schlamm im Wege liegt, den die Insel, als sie sich senkte, zurückgelassen hat.“ (Platon, Timaios)

Diese Angaben Platons lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es ist erstaunlich, wie viele Verkomplizierungen später von anderen Leuten hinzugedichtet wurden. Nehmen wir ihn doch einfach mal beim Wort! Etwas Besseres steht uns sowieso nicht zur Verfügung.

Also was bedeutet das? Atlantis lag jenseits von Gibraltar, ergo im Atlantischen Ozean. Nach Platons Angaben hier und an späterer Stelle müsste diese Insel kleiner als Grönland, aber mindestens doppelt so groß wie Großbritannien gewesen sein, und sie erfreute sich eines günstigen Klimas auf Breitengraden etwa von Spanien bis Nordafrika. Von Atlantis aus waren weitere Inseln im Westen und sogar das gegenüberliegende Festland erreichbar, das den Ozean umschließt – man denkt unweigerlich an Nord- und Südamerika. Denn im Vergleich zum Atlantik ist ja das Mittelmeer nur eine Bucht mit enger Einfahrt. Das Königreich Atlantis beherrschte also den Inselkontinent, weitere Inseln und Teile von Amerika sowie den Mittelmeerraum bis nach Mittelitalien und an der afrikanischen Nordküste entlang bis zumindest an die Westgrenze Ägyptens. Dieses Weltreich versuchte schließlich, auf einen Schlag auch die östlichen Mittelmeerländer zu unterwerfen, scheiterte jedoch am Widerstand der Ur-Athener (wenn wir sie so nennen wollen), deren eigene Macht angeblich ausreichte, um die atlantische Streitmacht zu besiegen und für den Rest der Mittelmeerländer die Unabhängigkeit wiederzugewinnen. Bald darauf versank jedoch Atlantis in einer plötzlichen Katastrophe im Meer, und gleichzeitig soll die athenische Streitmacht in einem gewaltigen Erdrutsch oder Erdbeben untergegangen sein.

Der letztere Vorfall könnte in diesem Rahmen damit zusammenhängen, dass laut Platon die Akropolis einst sehr viel größer gewesen ist, nämlich ungefähr sechsmal breiter und sechsmal länger. Das ergibt sich aus einer Überprüfung seiner Angaben auf einer Karte Athens und ist visuell nachvollziehbar, wenn wir die schroffen Seiten des Sockels betrachten, auf dem die heutige Akropolis steht. Von der urzeitlichen athenischen Streitmacht oder Kriegerkaste berichtet Platon, dass sie gemeinschaftlich um die Tempelanlagen herum das Hochplateau dieser sehr viel größeren Ur-Akropolis bewohnte. Die Zeitangabe ist ebenfalls eindeutig. Die Priester von Sais sagten dem Solon, diese Dinge hätten sich „vor 9.000 Jahren“ zugetragen. Das hieße also, von heute aus gesehen vor ungefähr 11.600 Jahren.

Auch Platon weiß, dass er keineswegs von einer klaren Kontinuität des griechischen Volkes seit 9.600 v. Chr. ausgehen kann. Es kann also nur eine urzeitliche Hochkultur in demselben geographischen Raum gemeint sein, die im Kritias jedoch zwecks Demonstration eines idealen griechischen Staates genauso ausführlich beschrieben wird wie Atlantis. Der Einfachheit halber werden griechische Namen benutzt und die damals am selben Ort stehende Stadt als „Athen“ bezeichnet; also eine Art Ur-Athen. Die Ägypter hätten laut Platon die Eigennamen aus der urzeitlichen Überlieferung sinngemäß ins Ägyptische übersetzt, und Solon hätte sich die Mühe gemacht, für diese ägyptischen Namen wiederum entsprechende griechische Namen einzusetzen. Platon gibt sich einige Mühe, die Sorgfalt dieser Übertragungen zu erläutern.

 

Urzeitliches Wissen oder ägyptische Flunkereien?

Freilich ist es für die Griechen äußerst schmeichelhaft, dass sie oder ihre Vorgänger, eine Art ideale Ur-Griechen, in grauer Vorzeit die Weltmacht Atlantis besiegt haben sollen.

Die als Originalquelle zitierten Priester des Neith-Tempels in Sais schmieren Solon, einem bedeutenden griechischen Gast in der Hauptstadt Ägyptens, möglicherweise eine Portion Honig ums Maul, als sie behaupten, seine Stadt wäre noch tausend Jahre älter als die ihre. (Oder unser guter Autor Platon verspottet den Traditionalismus seiner lieben Athener; oder es ist wahr, dass sich um die Akropolis seit Urzeiten immer wieder eine Stadt befand. Wir müssen wohl lernen, dass wir es mit Worten auf Papier zu tun haben; Worte lassen sich beliebig kombinieren, und Papier ist geduldig.)

Solon wird – laut Platon – von den Ägyptern in Sais mit allen Ehren empfangen, denn als Gründerin dieser Stadt gilt den Bewohnern die Göttin Neith; auf Griechisch entspräche dies der Göttin Athena, weshalb sie sich nach eigener Auskunft als große Freunde der Athener betrachten. Als Solon sich bei den bestens unterrichten Priestern über die Altertümer erkundigt, hat er den Eindruck, er selbst und andere Griechen seien in historischen Fragen praktisch unwissend. Um aus den Priestern einige Informationen über die Urzeit herauszulocken, unternimmt Solon eine Geschichtsdarstellung aus der Sicht der Griechen. Deren Sagen reichen bis zur „Großen Flut“ zurück – die bei den Griechen übrigens die „Deukalionische Flut“ heißt, weil der Sagenkönig Deukalion mit seiner Gemahlin Pyrrha der Sintflut entging und nach neun Tagen auf dem Berge Parnass landete (bzw. auf dem Athos oder dem Ätna); Deukalion soll dann durch Rücklingswerfen der Steine einem neuen menschlichen Geschlecht das Dasein gegeben haben. Diese den Griechen allgemein bekannten Details werden hier nicht erwähnt, aber Solon erzählt nun den Ägyptern, welche Geschlechter von Deukalion abstammen, und versucht sich zu erinnern oder auszurechnen, wie viel Zeit seitdem verstrichen ist. Ein ganz alter Priester ruft daraufhin aus: „O Solon, Solon, ihr Griechen bleibt doch ewig junge Kinder, einen alten Griechen gibt es ja überhaupt nicht.“ Solon fragt: „Wie meinst du das?“

„Ihr seid alle jung in eurer Seele“, erwidert der Priester, „denn ihr habt in ihr keine urtümliche Meinung, die aus alter Überlieferung stammt, noch irgendein altersgraues Wissen. Und das ist der Grund davon: schon manchesmal und auf viele Arten ist die Menschheit vernichtet worden und wird auch wieder vernichtet werden, am gründlichsten durch Feuer und durch Wasser, und in geringerem Maße auf tausend andere Arten.“ (Platon, Timaios)

Was in der griechischen Sage wie ein Kindermärchen klinge, habe einen durchaus wahren Kern. Nach Ablauf langer Zeiträume, so der ägyptische Priester, werde alles, was es auf der Erde gibt, durch ein großes Feuer vernichtet oder durch Überschwemmungen hinweggespült. Wenn das Feuer kommt, werden die Bewohner der Berge und hochgelegener, trockener Orte eher vernichtet als die Menschen an der Küste und an den Flüssen. Jedoch die Ägypter rettet in diesem Fall der Nil, indem er über die Ufer tritt. Wird die Erde hingegen mit Wasser überschwemmt, retten sich nur die Rinder- und Schafhirten auf den Bergen; in Ägypten aber strömt das Wasser nie von oben über die Felder, sondern alles steigt von unten in die Höhe.

„Daher und aus diesen Gründen erhalten sich hier die Dinge und werden für die ältesten angesehen; in Wahrheit verhält es sich aber so, dass an allen Orten, wo dies nicht übermäßige Kälte oder Hitze verhindert, eine bald größere, bald kleinere Zahl von Menschen lebt. Wenn wir aber gehört haben, dass sich bei euch oder hier oder sonst irgendwo etwas Schönes oder Großes oder irgendwie Bemerkenswertes abgespielt hat, so ist das alles hier von alters her in unseren Tempeln aufgezeichnet worden und damit erhalten geblieben. Bei euch und bei anderen Völkern aber ist es so: Gerade wenn ihr jeweils mit der Schrift und mit allen anderen Erfordernissen einer Stadt eben versehen seid, so kommt nach dem üblichen Abstand der Jahre wie eine Krankheit die Flut wieder vom Himmel gestürzt und lässt nur die von euch übrig, die sich weder auf die Schrift noch auf die Musenkunst verstehen, sodass ihr gewissermaßen immer wieder aufs neue jung werdet, ohne jedes Wissen von all den Ereignissen hier bei uns und bei euch, wie sie sich in den früheren Zeiten begeben haben.“ (Platon, Timaios)

Es habe also schon frühere Überschwemmungen der Erde gegeben, wenngleich die Griechen sich nur an eine erinnern. Das „schönste und beste Geschlecht unter den Menschen“ jedoch, so der alte Priester, sei Griechenland entsprungen, und ein kleiner Same jenes Volkes sei in den heutigen Griechen erhalten geblieben, wenngleich sie davon keine schriftliche Überlieferung besäßen.

„Denn es gab einst eine Zeit, Solon, noch vor der größten Vernichtung durch das Wasser, da war die Stadt, die heute die athenische heißt, nicht nur am tüchtigsten zum Kriege, sondern sie besaß auch in jeder Hinsicht die weitaus beste Verfassung; man erzählt von ihr die schönsten Taten und sagt, sie hätte die besten politischen Einrichtungen gehabt von allen unter dem Himmel, über die wir je Kunde erhalten haben.“ (Platon, Timaios)

Solon möchte nun der Reihe nach wissen, wie die Ereignisse der Vorzeit sich zugetragen haben. Der ägyptische Priester berichtet, das urzeitliche Athen sei von der gemeinsamen Göttin vor neuntausend Jahren, die ägyptische Stadt Sais um tausend Jahre später eingerichtet worden. Die Gesetze und die Gesellschaftsordnung der Ur-Athener werden mit den aktuellen Verhältnissen in Sais verglichen; es habe einen gesonderten Priesterstand gegeben, Handwerkerzünfte, Hirten, Jäger und Bauern sowie eine Kaste von Berufskriegern. An dieser Stelle folgt in Platons Timaios die bereits zitierte Zusammenfassung des Krieges zwischen Atlantis und den Mächten des östlichen Mittelmeers. Der umfangreiche Rest des Timaios befasst sich hingegen mit philosophischen Erörterungen über Schöpfung, Sein und Werden, mit antiker Chemie oder Alchimie auf der Grundlage der vier Elemente – Erde, Feuer, Wasser und Luft – sowie mit physiologischen Erklärungen über die Zweckmäßigkeit der Organe und die Hierarchie der Organismen. (Darwinisten, Materialisten und andere moderne Ideologen würden bei dieser Lektüre wütend vor sich hin schnauben; alle anderen kämen vorurteilsfrei in den Genuss einer Sichtweise, die ihnen äußerst frisch und unverfälscht erscheinen wird, lehrreich und trotz des antiken Zeitkolorits vermutlich näher an der Wahrheit als unsere hoch komplizierten, oft geradezu arroganten Wissensgebäude. Dies nur als Tipp für Eingeweihte – und solche, die es werden wollen.)

 

Die Anrufung der Götter

Im Kritias wird das Thema Atlantis wieder aufgriffen, mit einer ausführlichen Beschreibung der Ur-Athener wie auch der Insel Atlantis. Dem heutigen Leser fällt auf, dass die fiktiven Dialogredner zuerst grundsätzlich die Götter um Beistand anrufen. Alle, „die auch nur ein wenig über gesunden Verstand verfügen“, rufen zu Beginn einer Unternehmung die Götter an. Umso mehr gilt bei grundsätzlichen philosophischen Erörterungen wie im Timaios „die Notwendigkeit, Götter und Göttinnen anzurufen und darum zu flehen, dass wir das Ganze vor allem in ihrem Sinn, dann aber auch unserer Auffassung gemäß darstellen.“ Diese Form der Demut ist uns Heutigen abhanden gekommen, aber angesichts der Erniedrigung, des Chaos und der Maßlosigkeit unseres Zeitalters dürfte es sinnvoll sein, sich wieder daran zu erinnern. (Etliche moderne Leser werden die Echtheit der platonischen Demut freilich anzweifeln und in diesen Beschwörungen nur einen zynischen literarischen Kunstgriff sehen, der Authentizität vortäuschen oder den Zuhörer hypnotisieren soll.)

So bittet Kritias nun insbesondere Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, um Hilfe, denn, wie er sagt, „das Wichtigste zum Erfolg meiner Rede liegt fast ganz bei dieser Gottheit“. Als die genannten uralten Hochkulturen gegründet wurden, hätten die Götter sich im Übrigen verhalten

„wie Hirten mit ihren Herden: sie zogen uns auf als ihren Besitz und als ihre Pfleglinge, freilich mit dem Unterschied, dass sie dabei gegen die Leiber nicht leibliche Gewalt anwendeten, so wie die Hirten ihr Vieh mit Schlägen auf die Weide treiben, sondern so, wie sich ein Lebewesen am besten leiten lässt: ihnen vom Achterschiff aus die Bahn weisend, indem sie, nach ihren eigenen Gedanken, mit gütlichem Zureden wie mit einem Steuerruder die Seele beeinflussen; durch solche Führung lenkten sie das ganze menschliche Geschlecht.“ (Platon, Kritias)

Eine solche Ordnung des Daseins mag heute nicht mehr üblich sein, aber die Schilderung spricht im Gedächtnis der Seelen etwas an, das durchaus so gewesen sein könnte. Horchten die alten Griechen auf die Eingabe fiktiver Dämonen? Oder gab es diese Götter wirklich, und haben sie inzwischen einfach die meisten ihrer Fähigkeiten verloren? Die Schlussfolgerung bleibt Ihnen selbst überlassen.

 

Ur-Athen: Sparsame Krieger, blühende Landschaften

Die konkrete Beschreibung der urzeitlichen Verhältnisse ist auf jeden Fall spannend. Platon geht zunächst auf detaillierte Angaben über das frühe Athen ein, wie sie ihm angeblich überliefert wurden. Das gehört nicht unmittelbar zu unserem Thema – Atlantis –, aber wenn die atlantische Streitmacht kurz vor der großen Naturkatastrophe von den Athenern besiegt werden konnte, sollte es einige Rückschlüsse auf die Stärke und den Zustand von Atlantis zulassen.

Nach diesen Angaben verfügte Ur-Athen über eine ständige Berufsarmee von 20.000 wehrtüchtigen Kriegern und Kriegerinnen. Ganz richtig, ob es uns passt oder nicht – die Damen mischten kräftig mit, und zwar nicht nur im Ausnahmefall! Freilich kommt hier ein auch im Timaios erwähntes platonisches Ideal zum Ausdruck, man müsse „die Natur der Frauen den Männern angleichen und ihnen allen gemeinsam mit diesen die gleichen Beschäftigungen zuweisen, im Krieg ebenso wie im übrigen Leben.“ Wir sehen hier eine Form von erbärmlicher Gleichmacherei, wie sie während der letzten Jahrzehnte der Moderne auch uns Heutigen zunehmend gepredigt wird, bis hin zur perversen Gewöhnung an junge Damen in schweren Kampfuniformen und mit Maschinengewehren.

Der zweigeschlechtliche urathenische Kriegerstand bewohnte laut Platon das damals viel größere Hochplateau der Akropolis, und zwar als eine quasi sozialistisch lebende Herrscher- und Wächterkaste. Diese Krieger hatten alles, was sie zu ihrer Ernährung und Bildung brauchten, verfügten jedoch über keinerlei privates Eigentum, „weil sie der Meinung waren, dass alles gemeinsamer Besitz von allen sein soll; über die auskömmliche Nahrung hinaus verlangten sie von ihren Mitbürgern nichts zu erhalten“.

Griechenland sei zu jener Zeit weitaus fruchtbarer gewesen, sodass ein großes Heer von Leuten ernährt werden konnte, die sich nicht mit dem Landbau beschäftigten. Das gebirgige Land sei neuntausend Jahre vor Solons Zeiten, bevor es durch zahlreiche gewaltige Überschwemmungen abgetragen wurde, reichlich mit Erde bedeckt gewesen, sodass es nicht nur die schönsten und mannigfaltigsten Früchte, sondern diese auch in ungeheurer Fülle hervorgebracht habe; nunmehr sei jedoch nur das magere Gerippe des Landes übrig geblieben. Es gab somit fetten Boden in Fülle, weite Wälder auf den Höhen, hohe Fruchtbäume in großer Zahl, Wasser im Überfluss und unbeschreiblich reiche Weideplätze.

Das klingt doch sehr nach dem alten Lied, früher sei „alles besser gewesen“, und entspricht der utopischen Grundannahme, die Natur werde den Menschen überreichlich versorgen, wenn er nur endlich zur Besinnung käme. Andererseits mag ein Funke Wahrheit daran sein: Denn wenn die Menschen ihr Dasein auf eine Art konstruktive Verbundenheit starker Individuen in weisem Einklang mit dem Universum ausrichten würden, könnten sie auf lange Sicht Großes vollbringen und friedlich ein harmonisches Gesamtkunstwerk des Lebens errichten, in dem sich vielleicht sogar die Wildheit der Elemente bezähmen ließe. Visionen dieser Art besitzen nahezu hypnotische Kraft, entarten jedoch leicht in eine widerwärtige Gleichmacherei, die der unendlichen seelischen Vielfalt der Einzelnen ein einheitliches Muster aufdrücken möchte. Als Lockmittel für diesen Einheitsbrei dienen entweder die mageren, angeblich „sicheren“ materialistischen Versprechungen der Marxisten oder das esoterische Aufgehen in einer undifferenzierten spirituellen Ursuppe, einem dumpfen Gemeinschaftsozean. Die Gleichsetzung von Männern und Frauen ist nur eines der typischen Symptome. Sprüche wie „Alles ist eins“ (egal ob das nun geistig, materiell oder beides umschließend gemeint ist), „die Einheit der Energie“ oder „Alles ist Materie“ sind im Grunde eine Kampfansage an die freie Einzelseele. Jedenfalls kennen wir heute die katastrophalen Folgen, die über weite Teile einer Bevölkerung hereinbrechen, wenn ein diktatorisches Regime wie zum Beispiel der Kommunismus den utopischen Zustand, den es laut Platon schon einmal gegeben hat, in der trostlosen Form eines „brüderlichen“ Mischmaschs mit langweiligen Eintopfküchen zu erzwingen versucht.

 

Atlantis: Millionenheer und Kolossalbauten

Erst nach der obigen Schilderung einer idealen Urzeit der Griechen wendet der Text sich der eingehenden Beschreibung des Kriegsgegners Atlantis zu. Insgesamt ist hervorzuheben, dass Platons Atlantis keinerlei Hinweis auf High-Tech enthält, keine Schienenwege, Dampfschiffe, Tunnelbagger, Fernsehgeräte oder Laserpistolen und gewiss keine Flugtechnik. Alles, was er beschreibt, ist mit den Mitteln des Altertums prinzipiell machbar, wenngleich kolossal in den Dimensionen, und würde, wenn die ganze Insel längst versunken ist, nicht unbedingt Spuren hinterlassen, die 11.600 Jahre später noch auffindbar und klar identifizierbar wären. Für die atlantische Flotte der hauptstädtischen Provinz allein nennt er beispielsweise eine Zahl von zwölfhundert Schiffen, jedoch wird in der ganzen Abhandlung nur ein einziger größerer Schiffstyp erwähnt, nämlich die Triere, ein antikes Ruderkriegsschiff. Es ist nicht geklärt, ob in einem solchen „Dreiruderer“ die Ruderer in drei Reihen übereinander saßen oder ob jeweils drei Ruderer einen Riemen bedienten, aber es steht fest, dass dieses technische Niveau auch zu Platons Zeiten nichts mit Sciencefiction zu tun hatte. Natürlich könnte die Wahrheit ganz anders ausgesehen haben, aber Platon liefert für solche Spekulationen keinen Rückhalt.

Atlantis soll in zehn Landesteile gegliedert gewesen sein, jeder von einem König regiert, doch der König der Hauptstadtprovinz habe einen gewissen Vorrang genossen. Die Größe der Insel lässt sich anhand der Zahlen abschätzen, die für diesen vornehmsten Landesteil angegeben werden; denn allein diese Region, unmittelbar am Meer gelegen, soll eine flache, gleichmäßige Ebene von 555 mal 370 Kilometern Ausdehnung gewesen sein. Das wären mehr als 200.000 Quadratkilometer für nur einen (wenn auch den größten) der zehn Landesteile. An anderer Stelle bestätigt Platon diese Schätzung mit der Angabe, dieser Landesteil sei in 60.000 Dorfgemeinden zu je etwa 3,4 Quadratkilometern eingeteilt gewesen. Für die Hauptstadt gibt Platon einen Durchmesser von etwa 20 Kilometern an; dieser ganze Raum sei von vielen dicht gedrängten Häusern besetzt gewesen. Das wäre eine Millionenstadt, umgeben von einer Provinz mit zwanzig bis fünfzig Millionen Einwohnern, denn die Ebene wird als äußerst fruchtbar beschrieben, besetzt mit unzähligen blühenden Dörfern. Über die anderen neun Landesteile werden keine spezifischen Angaben gemacht.

Wir beginnen ernstlich zu zweifeln, ob wir dies glauben sollen. Nicht dass es im Altertum oder in „grauer Vorzeit“ keine so große Bevölkerung hätte geben können! Aber allmählich entsteht trotz warmherzigster Aufgeschlossenheit der Eindruck, wir hätten es hier mit einem der erfolgreichsten Lügenbarone der Menschheitsgeschichte zu tun. Denn die Zahlen und die nachfolgenden baulichen Details sind zu präzise, um über neun vorsintflutliche Jahrtausende auf einer Hieroglyphensäule oder etlichen Pergamenten und dann obendrein mündlich von Solon über die Großväterreihe so überliefert worden zu sein – vor allem, wenn die Informationen auf dieser Kette zu allem Überdruss auch noch zweimal von einem 10-jährigen griechischen Knaben aufgeschnappt und dann jeweils im hohen Alter weitergereicht worden sein sollen. In seine Rahmenerzählung hat Platon freilich sehr geschickt, ja fast beiläufig die Bemerkung eingeflochten, dass die fraglichen Knaben im Aufsagen langer Gedichte geschult waren ...

Aber schauen wir uns ruhig weiter haargenau an, was der alte Philosoph uns hier auftischt. Vielleicht löst es sich dann auf? Denn Platon, wohlgemerkt, ist die Originalquelle oder erste wahrnehmbare Ursache für all die Spekulationen, die seit Ausgang des Mittelalters ein circa einhundert Meter langes Regalbrett mit einschlägigen Büchern und Schriften angefüllt haben, mehr als Sie im Laufe eines Lebens jemals lesen könnten. Wenn eine kurze Geschichte so viel Verwirrung auslöst und obendrein archäologisch gesehen nichts da ist, dann hilft nur noch ein scharfer, gründlicher Blick auf das Original. Sollte es eine Lüge sein, so ist es doch wenigstens die Originallüge, und die liegt auf alle Fälle näher an der Wahrheit – oder am schöpferischen Ursprung – als alle späteren Abänderungen.

Platon beginnt den von Atlantis handelnden Abschnitt des Kritias mit einem mythologischen Rückblick. Die Götter teilten die ganze Erde unter sich auf und ließen sich Heiligtümer und Opfer stiften. Dem Meeresgott Poseidon fiel durch das Los die Insel Atlantis zu. Auf einem Höhenzug in der späteren Hauptstadtprovinz hatte sich einer der Menschen angesiedelt, „die zu Anbeginn in jener Gegend aus der Erde entstanden waren“. Er hieß Euenor und hatte mit seiner Frau Leukippe eine einzige Tochter namens Kleito. Als das Mädchen herangewachsen war, starben die Eltern, woraufhin Poseidon sie liebgewann und sich mit ihr vereinigte. Poseidon brach die Anhöhe des Wohnsitzes ringsherum ab und zog Ringe darum, abwechselnd von Wasser und von Land, sodass der erhabene Wohnsitz von drei breiten Wasserringen umgeben war. Er ließ für die so geschaffene Insel zwei Quellwasser aus der Erde aufsprudeln, das eine warm, das andere kalt, und sorgte für die Fruchtbarkeit des Bodens.

Poseidon zeugte mit Kleito zehn Söhne – fünf Zwillingspaare – und teilte die Insel unter ihnen auf. Der ältere des ersten Zwillingspaares erhielt das mütterliche Haus und die weite umgebende Ebene; das war „das größte und beste Stück“. Er wurde zum König über die anderen neun eingesetzt, die als Statthalter fungierten, und hieß Atlas; nach ihm sind die Insel und der umgebende Ozean benannt. Dieses Herrschergeschlecht bestand nun viele Menschenalter lang fort. Das Königshaus soll zu beispiellosem Reichtum gelangt sein, weil nicht nur Atlantis selbst sehr fruchtbar war und Erze, Holz und Nahrung in Hülle und Fülle bot, sondern weil die Herrschaft auch auf andere Inseln und auf das Festland ausgedehnt wurde. Sogar die Elefanten waren auf Atlantis sehr zahlreich. Platon zählt im Einzelnen all die Köstlichkeiten auf, von denen seine Zuhörer sich eine Vorstellung machen konnten; „alles das brachte die heilige Insel, die damals noch im Sonnenlichte lag, hervor, schön und zum Staunen und in unerschöpflicher Fülle. Und die Bewohner nahmen das alles von der Erde in Empfang und bauten Heiligtümer und königliche Paläste, Häfen und Schiffswerften und verschönten das ganze übrige Land“. Der Königspalast auf der Anhöhe wurde so vollendet ausgebaut, dass jeder, der ihn sah, von seiner Größe und Schönheit überwältigt war.

In der Tat zeichnet Platon ein sehr ästhetisches Bild. Die Palastinsel, die Ringe und die 30 Meter breite Brücke waren von beiden Seiten mit einer steinernen Mauer umgeben; auf den Brücken standen Türme und Tore. Der Stein dazu wurde von den Abhängen der Zentralinsel abgebaut, sowie von der äußeren und inneren Seite der Ringgürtel; die Steine waren teils weiß, teils schwarz und teils rot. Die Bauten waren teils einfarbig, teils in verschiedenen Steinsorten spielerisch kombiniert; so entstand eine natürliche Anmut. „Und die Mauer, die um den äußersten Ring herum lief, umkleideten sie in ihrem ganzen Umkreis mit Erz, wobei sie von diesem gleichsam einen Überzug machten; die innere Mauer übergossen sie mit Zinn und diejenige um die Burg selbst mit Goldkupfererz, das wie Feuer funkelte.“

Der Tempel des Poseidon auf der Höhe der atlantischen Akropolis war 185 Meter lang, 90 Meter breit und entsprechend hoch; seine Außenseite war mit Silber umkleidet, die Giebelbekrönung vergoldet. Das Innenauskleidung des gewaltigen Gebäudes strotzte von Elfenbein, Silber und Gold sowie dem allgegenwärtigen, in seiner Zusammensetzung ungeklärten Goldkupfererz („Oreichalkos“, wörtlich „Bergerz“; vielleicht war Messing gemeint). Hier standen goldene Bildsäulen, der Gott Poseidon als Wagenlenker mit sechs geflügelten Pferden, so groß, dass er mit dem Scheitel die Decke berührte. Rings um ihn tummelten sich hundert auf Delphinen reitende Nereiden (hilfreiche Meerjungfrauen; die Griechen glaubten später nur an fünfzig, weshalb Platon liebevoll und Ehrfurcht gebietend hinzusetzt: „damals glaubte man, dass es so viele gebe“). Und so weiter, und so fort.

Die Wasserringe um die alte Mutterstadt wurden überbrückt und vom Meere aus gruben die Atlantier einen 90 Meter breiten, 30 Meter tiefen und 9 Kilometer langen Durchstich bis zur Königsinsel im Inland, die ihrerseits einen Durchmesser von 900 Metern hatte. In diesen Dimensionen setzt sich die Beschreibung fort; gegen die kolossalen Hafenanlagen der königlichen Hauptstadt von Atlantis nähmen sich die heutigen Hafenkanäle von Amsterdam oder Kopenhagen wie das reinste Puppenhaus aus. Damit nicht genug; um die gesamte, 200.000 Quadratkilometer große, dicht bevölkerte Ebene herum soll ein Kanal von gewaltigen Ausmaßen angelegt worden sein, in einer Gesamtlänge von 1.850 Kilometern und dabei überall 185 Meter breit und 30 Meter tief. Dieser Kanal diente zur Aufnahme aller Wasserläufe, die von den Bergen herabkamen, und von seinem oberen Laufe her waren in Richtung auf das Meer alle 20 Kilometer Kanäle von etwa 30 Metern Breite und etwa 350 Kilometern Länge in das Land eingeschnitten, die dann jedoch nicht direkt ins Meer, sondern in den unteren Lauf des Kanals mündeten. Erst nahe der Stadt floss das Wasser aus dem linken und rechten Unterlauf von beiden Seiten ins Meer. Zusätzlich existierten Querverbindungen zwischen den einzelnen Kanälen und zur Stadt hin.

Dieser unvorstellbare, selbst heute ganz unreale Aufwand soll dazu gedient haben, das Holz aus den Bergen in die Stadt zu führen und auch für sonstige Produkte zur Erntezeit die nötigen Transport- und Versorgungslinien bereitzustellen. Außerdem konnte dank der künstlichen Bewässerung zweimal jährlich die Ernte eingebracht werden. Die wunderbare Ausgestaltung dieses großen Landesteils, vergleichbar mit der Fläche des gesamten Norddeutschen Tieflands, war laut Platon zum einen der Natur, zum andern, fast schon ironisch mag es anmuten, „der Arbeit vieler Könige im Verlauf einer langen Zeit“ zu verdanken. Der große Philosoph gibt sogar zu, man könne „fast nicht glauben, dass dieses von Menschenhand geschaffene Werk, verglichen mit anderen Bauwerken dieser Art, solche Größe gehabt habe; und doch muss ich erzählen, was ich gehört habe“. Nun, das mag ein erzählerischer Kunstgriff sein: ein demütig wirkendes Eingeständnis, das die Echtheit der Informationen unterstreichen soll.

Jeder der 60.000 Dorfbezirke der Hauptstadtprovinz hatte für seine kriegstauglichen Männer einen Anführer zu stellen und zur Streitmacht den sechsten Teil eines Kampfwagens zu stellen, sodass dieser Landesteil allein zehntausend Wagen aufbieten konnte. Außerdem stellte jeder Dorfbezirk zwei Pferde samt Reitern (das macht nach Adam Riese 120.000 berittene Soldaten), ferner zwei Schwerbewaffnete und je zwei Bogenschützen und Schleuderer, an Leichtbewaffneten sodann je drei Steinwerfer und Speerschützen und schließlich vier Seeleute zur Bemannung von zwölfhundert Schiffen. Nimmt man Platon beim Wort, dann ergäbe sich aus diesen Zahlen allein für die Hauptstadtprovinz von Atlantis eine Streitmacht von 1.140.000 Mann, nämlich 19 Mann pro Dorfbezirk bei einer Gesamtzahl von 60.000 Bezirken. (Gegen welche andere Macht hätte dieses große Heer antreten sollen? Insbesondere wenn Atlantis doch ein befriedetes Inselreich war?)

Diese Streitmacht, zuzüglich des Aufgebots der anderen neun Landesteile von Atlantis, oder zumindest derjenige Teil dieser Streitmacht, der in einem großen Krieg bis ins östliche Mittelmeer durchdrang, soll laut Platon von 20.000 athenischen Kriegern besiegt und aus dem gesamten Mittelmeerraum vertrieben worden sein. David gegen Goliath? Die Geschichte ist berauschend, aber an diesem Punkt gerät sie zum Ammenmärchen. Da kann er noch so sehr die Götter um Beistand anflehen, ägyptische Priester und ohrenspitzende Knäblein herbeizitieren – jetzt rappelt’s.

 

Diktatur der Vernunft?

Die von Platon umrissene Gesellschaftsordnung entspricht teilweise seiner persönlichen Utopie. Merkwürdig ist allerdings, dass weder sein Ur-Athen noch die Schilderung des Gegners Atlantis das wesentlichste Merkmal der von Platon sonst bevorzugten Ordnung aufweisen: nämlich die Philosophen an der Spitze des Staates.

Freilich ließe sich das Leben wunderbar ordnen, wenn die Natur so überaus spendabel wäre; Platon hat offenbar angenommen oder aus pädagogischen Gründen vorgegaukelt, die Natur würde schon das Ihre tun, wenn nur die Menschen vernünftig wären. Der statische Zustand der Gesellschaft, der hier ersehnt wird, kann eigentlich nur durch repressive Mittel aufrechterhalten werden. Denn für so ein weitläufiges Gebiet nur die eine Metropolis und 60.000 etwa gleich große Dörfer im Umfeld aufrechtzuerhalten, von denen ein jedes genau 19 Mann für die Streitkräfte abkommandiert, würde auf krassesten Zentralismus hinauslaufen. Der Koloss in der Mitte würde alles dominieren und müsste die Landbevölkerung praktisch mit Ketten und Bluthunden davon abhalten, ihren Zustand zu verändern, indem sie beispielsweise regionale Fürsten oder Aufrührer bevorzugt, sich zu größeren Gemeinden oder neuen Städten zusammenschließt oder en masse am süßen, dekadenten Leben der Großstadt teilzuhaben versucht. Nach sozialistischer Grundanschauung müssten jedoch alle zufrieden sein, weil ja schließlich ihre materiellen Grundbedürfnisse gedeckt sind. Dies widerspricht aber der menschlichen Grund- und Geistnatur. Der Mensch braucht Ansporn und Aussicht auf Verbesserung. Einer derart statischen Gesellschaft, die von Königen, Priestern und lokalen Aufsehern beherrscht wird, zentral geplant und durchkalkuliert, fehlt nicht nur der dynamische Anreiz, das Wechselspiel der Kräfte und das schützende Prinzip der Gewaltenteilung, sondern vor allem auch die chaotische, belebende Wirkung der Innovation, der unerwarteten Neuerung. Für die Masse der Menschen fehlt hier die Freiheit der Ziele und die Vielfalt der Spiele. Man kann freilich sagen: Es wäre doch schön, wenn sich alle einig wären. Ja, fein; sind sie aber nicht! Was macht man mit den Andersdenkenden und den Andersartigen, mit neuen Strömungen und Ideen? Die zwanghaften Planer einer idealen Ordnung unter den Menschen werden stets versucht sein, die Ausnahmefälle totzuschweigen, zu knebeln, zu unterdrücken, auszusortieren und im Extremfall auszurotten. Die bessere, pluralistische Lösung umfasst stets Wege und Mittel, um das Potenzial der besonderen Individuen zu nutzen und möglichst zum Wohle aller zu kanalisieren, wohl wissend, dass hierin ein Faktor der Unberechenbarkeit liegt.

Platon zeichnet einen quasi geschichtslosen Zustand, wobei freilich die Inselkulisse sehr hilfreich ist, die den utopischen Staat vor Einwirkungen von außen schützt. In Wirklichkeit müssten für solche Kolossalbauten, wie sie hier dargestellt sind – insbesondere für die gewaltigen Kanäle –, Millionen Menschen jahrhundertelang in elender Sklavenarbeit verschlissen worden sein, es sei denn, man wäre mit außerirdischen Laser-Hyperbaggern aus Perry Rhodans bauwirtschaftlichem Geheimarsenal ausgerüstet gewesen. Davon jedoch kein Wort.

Im Übrigen herrschten die zehn atlantischen Könige (nur anfangs war kurz von neun „Statthaltern“ die Rede) über ihren jeweiligen Landesteil mit unumschränkter Macht. Jeder König „regierte über die Männer in seiner Stadt und befand über die meisten Gesetze, wobei er bestrafen und hinrichten ließ, wen immer er wollte.“ Das sind die Merkmale einer Willkürherrschaft – einer Tyrannei.

In ihren gegenseitigen Beziehungen waren die Könige den Anordnungen des Gottes Poseidon unterworfen, teils gemäß Überlieferung und teils aufgrund einer Inschrift, welche die ersten Könige auf einer Säule aus Goldkupfererz im zentralen Heiligtum des Poseidon aufgezeichnet hatten. Hier versammelten sich die Könige alle fünf oder sechs Jahre, um nach einem rituellen Stieropfer übereinander zu Gericht zu sitzen. Da sehen wir nun diese zehn Könige tief in der Nacht in wunderschönen blauen Gewändern beisammensitzen, um über jegliche Übergriffe, deren sie sich gegenseitig beschuldigen, Recht zu sprechen und sich Recht sprechen zu lassen. Sobald es Tag wurde, schrieben sie das Urteil auf eine goldene Tafel. Die Könige sollten niemals die Waffen gegeneinander erheben, sollten Beschlüsse über Krieg und andere Maßnahmen gemeinsam beraten und dabei dem Geschlecht der Atlantiden (dem von Atlas abstammenden Oberkönig) den Vorrang zuerkennen. „Ein König aber sollte niemals den Tod eines Verwandten verfügen können, es sei denn, dass mehr als die Hälfte der Zehn dem zustimmte.“ Nun, das ist beruhigend.

Dies war, in etwas gestraffter Wiedergabe, Platons Atlantis. Was fangen wir nun damit an? Zweifellos handelt es sich um eine Erzählung von großer Suggestivkraft, denn noch heute wird leidenschaftlich daran herumgedeutelt. Wie ein jenseitiger Paradiesgarten des gesellschaftlichen Friedens und des allgemeinen Wohlstands leuchtet Platons Vision, von späteren Träumern vielfach ausgeschmückt, aus ferner Vergangenheit in ferne Zukunft. Entsprechend gern haben Kommunisten und Nationalisten sie für ihre Zwecke zu nutzen versucht. Doch während man in umfangreichen Nachahmungen und Erklärungsversuchen das Atlantis-Motiv vor den Wagen anderer Zielsetzungen spannte, wurde das Original oft gar nicht so gründlich betrachtet.

 

Das große Rätselraten

Das Christentum legte Platons Atlantis zu den Akten, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Erst mit Ausgang des Mittelalters begannen die Europäer freier zu denken, und da inzwischen Amerika entdeckt worden war, keimte der Verdacht auf, dies müsse das „gegenüberliegende Festland“ sein, das Platon erwähnt hatte. Also war anzunehmen, dass Atlantis irgendwo dazwischen anzusiedeln wäre. Der Jesuitenpater Athanasius Kircher stellte 1665 die These auf, die Azoreninseln seien die höchsten Gebirgszüge des versunkenen Atlantis. Der französische Naturforscher Bory de Saint-Vincent meinte 1803, Atlantis habe unmittelbar westlich von Afrika gelegen und nur die Kanarischen Inseln, Madeira und die Azoren seien übrig geblieben. Das deckt sich auf jeden Fall mit Platons Angaben. Zu breiter Popularität gelangte das Atlantis-Motiv schließlich im Jahre 1882 mit dem Buch Atlantis: The Antediluvian World („Atlantis: Die vorsintflutliche Welt“) von Ignatius Loyola Donnelly. Es war im Wesentlichen eine groß angelegte Spekulation, wurde aber rasch zum Bestseller und löste in den USA und in England eine regelrechte Atlantiseuphorie aus. Die modernen Atlantislegenden, wie etwa bei Donovan, beruhen im Wesentlichen auf Donnellys Thesen.

Zweifler haben gemutmaßt, mit den „Säulen des Herakles“ könne in Wirklichkeit der Bosporus (bei Istanbul) gemeint sein, sodass Atlantis im Schwarzen Meer gelegen haben müsste; alle anderen geographischen Angaben Platons sprechen jedoch dagegen. Er erwähnt ja sogar, dass eine der nördlichen Provinzen von Atlantis dem Südwesten Spaniens am nächsten war: Der Zwillingsbruder des ersten Königs Atlas „erhielt als Anteil die Anhöhen der Insel nach den Säulen des Herakles hin, gegen das heutige Gebiet von Gadeira, das nach dem damaligen Ortsnamen so heißt.“ Gadeira (Gadir) ist das heutige Cadiz unweit von Gibraltar, eine südspanische Stadt am Atlantik. Es kursieren zahlreiche spektakuläre Theorien, nach denen Atlantis bei Helgoland, im Schwarzen Meer, auf Kreta, in der Türkei oder gar bei Indonesien anzusiedeln wäre, aber wie die Urheber solcher Theorien das Recht ableiten, ihre Fundorte oder visionären Schauplätze Atlantis zu nennen, bleibt schleierhaft. Entweder stimmen wenigstens Platons geographische Angaben, die deutlich genug sind, oder die ganze Story gehört ausschließlich in den Bereich der Mythologie.

 

Utopien der Renaissance

Interessanter als das beliebige geographische Rätselraten ist eigentlich die geistige Symbolkraft, die Atlantis als Menschheitstraum ausübt. In dieser Funktion dient die idyllische Insel seit dem 16. Jahrhundert als Vorlage für eine Reihe einflussreicher Utopien und spekulativer Romane. Eine Utopie ist, wohlgemerkt, ein „Nicht-Ort“, von griechisch ou, nicht, und tópos, Ort, also eigentlich ein Nirgendwo. 1627 erschien der utopische Roman Nova Atlantis (deutsch u.a. „Neu-Atlantis“) des englischen Philosophen und Staatsmannes Francis Bacon, der eine gründliche Erneuerung der Philosophie und der Wissenschaften auf der Grundlage von Beobachtung und Experimenten anstrebte. Nur in unverfälschter Erfahrung sah er die sichere Quelle des Wissens; er wurde damit zum Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften. Die Natur müsse wissenschaftlich erkannt werden, um sie zu beherrschen und zur Vervollkommnung der Kultur nutzbar zu machen. Diesen Idealen entsprach sein „Neues Atlantis“ als technisch perfekter Zukunftsstaat.

Als in der Renaissance zahlreiche europäische Denker und Künstler aus den bisherigen Schranken der christlichen Dogmatik ausbrachen, musste bei allem Optimismus das Problem gelöst werden, wie eine Gesellschaft von geistig unabhängigen, erkenntnisfähigen Individuen letztlich aussehen könnte. Hilfreich bei diesen Überlegungen war ein Gedankenexperiment: die Utopie. Zwei dieser Utopien, die zwar nicht „Atlantis“ hießen, aber auch als vernunftorientierte Inselstaaten konzipiert waren, verdienen erwähnt zu werden.

Thomas Morus (ein enger Berater des englischen Königs Heinrich VIII.) schrieb den Staatsroman „Über den besten Zustand des Staates und die Insel Utopia“. Damit wurde 1516 erstmals der Begriff „Utopie“ eingeführt. Morus beschrieb einen agrarischen Inselstaat mit 54 Städten, gewählten Repräsentanten und einem Präsidenten auf Lebenszeit. Zu den Merkmalen dieser fiktiven Gesellschaft zählten humanistische Bildung, eine universale Vernunftreligion, religiöse Toleranz und zwar gemeinhin Monogamie, aber Ehescheidungen unter staatlicher Aufsicht (da freut sich der Frauenfresser Heinrich VIII.).

1602 entwarf der Dominikaner Tommaso Campanella (1568–1639) seine „Sonnenstadt“ (Civitas solis), einen fiktiven „philosophischen Staat“ auf einer Insel bei Indien (Ceylon). Dieser Staat ist streng zentralistisch geordnet und wird von einem Priesterfürsten regiert, der aufgrund seiner überragenden Kenntnisse aller Wissenschaften gewählt wird. Alle sozialen Fragen sollen nach der Vernunft geregelt werden. Campanella glaubte an eine doppelte Offenbarung durch die Natur und die Bibel und wollte den menschlichen Egoismus durch die Utopie eines katholischen und sozialistischen Gemeinwesens überwinden.

Eine eingehende Darstellung der obigen Utopien würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen; es sei jedoch darauf hingewiesen, dass in Campanellas Phantasiestaat die Regierung sogar die „Zuchtwahl“ organisiert und dass es dort keine Familien gibt, sondern nur Arbeitskollektive. Im vollen Vertrauen auf die Macht der Vernunft heben die drei genannten Autoren (Bacon, Morus und Campanella) Brüderlichkeit, Friedfertigkeit und Freundlichkeit hervor, jedoch ist die Liebe für sie vor allem eine Frage der Eugenik oder Zuchtauslese. Der heutige Leser könnte sich ein wenig betrogen fühlen, wird aber verstehen, dass diese Stadien der Ideengeschichte notwendig waren, um die Menschen allmählich aus ihrer Unmündigkeit emporzuführen.

Der Vorteil von Utopien ist, dass ein Ziel aufgestellt und eine Richtung gewiesen wird. Der Nachteil ist für gewöhnlich, dass der begeisterte Denker und oft auch der radikale Anwender den Menschen nach seinem eigenen Bilde zu kneten versucht. Das ist der Fluch der absoluten Macht und das Verhängnis einer alles durchdringenden Wissenschaft oder allgegenwärtigen Religion, indem sie den Menschen zum bloßen Objekt ihres Gestaltungswillens erniedrigen. Akzeptabel wären eigentlich nur Wissenschaften, Religionen und Gesellschaftssysteme, die der freien Entfaltung des Individuums und der Erhöhung seines persönlichen Potenzials gewidmet sind, denn in diesem Falle erhöht sich parallel zur Macht des Systems auch die Macht des Einzelnen.

 

Schlusswort

Die Frage ist, was bleibt. Niemand braucht Dinge zu glauben, die er nicht selbst gesehen hat oder anhand überzeugender Indizien für wahrscheinlich halten darf. Ein ursprünglicher Wahrheitsgehalt, nämlich dass es lange vor allen bis jetzt bekannten Kulturen der Vergangenheit auch einige phantastische frühere Hochkulturen gegeben hat, dürfte sich trotz aller Zweifel behaupten können. In fernster Vergangenheit könnte sich sonstwas abgespielt haben – egal was unsere Wissenschaftler sich bislang zusammengereimt haben. Sicher wartet die Vorgeschichte noch mit zahlreichen Überraschungen auf.

Der ägyptische Orakelspruch vom ewigen, unentrinnbaren Auf- und Untergang der Menschheit braucht uns indes nicht zu entmutigen. Nutzen wir dieses fatalistische Gefuchtel lieber als Ansporn, um es diesmal besser zu machen, im Bewusstsein der Tatsache, dass es nicht zwangsläufig immer bergauf geht. Unsere bisherige, progressive Interpretation der Geschichte muss nicht unbedingt stimmen.

Die Fundamente einer Wissenschaft bestehen immer nur so lange fort, bis sich genügend viele Ausnahmefälle und unerklärliche Phänomene angesammelt haben, um ein ganz neues System von Grundannahmen erforderlich zu machen; man nennt das einen Paradigmenwechsel. Ein Paradigma ist die Gesamtheit der beherrschenden Grundauffassungen einer Wissenschaft in einem bestimmten Zeitabschnitt. Es ist nichts Endgültiges.

Platon hat höchstwahrscheinlich eine alte Überlieferung aufgegriffen und – ab einem gewissen Punkt – die grandiose Kulisse zur gleichnishaften Vermittlung seiner persönlichen Staatsphilosophie genutzt. Die wichtigste Nachwirkung auf die heutige Zeit ist vermutlich die eines Augenöffners für die Unbegrenztheit der Vergangenheit und der Zukunft, womit ein Trost und auch ein Ansporn geliefert wird. Gleichzeitig dient Atlantis als Mahnung und Erinnerung daran, dass selbst die größten Zivilisationen sich niemals vollkommen sicher wähnen sollten; dass der grenzenlose Fortschrittsglaube an den einfachen, aber mächtigen Gegebenheiten der Natur zerschellen kann; dass die Menschheit auch gewaltige Rückschläge erleben kann, aus deren Schlamm oder Asche sie sich mühsam wieder erhebt. Und zugleich erinnert der Philosoph uns an traditionelle sittliche Maßstäbe und geistige Werte, deren Zerfall entweder durch göttliche Mächte bestraft werden wird oder im Gesamtgefüge der Welt eine so schrille Disharmonie erzeugt, dass die Urkraft der Elemente aus den Fugen gerät und über dem Hochmut und Materialismus der Menschen die Wogen der Flut oder das alles verzehrende Feuer hereinbrechen lässt. Eine solche Erklärung bietet denn auch der letzte Absatz des Dialoges Kritias, in dem es heißt:

Diese Macht nun [Atlantis], in der Größe und Beschaffenheit, wie sie damals in jenen Gegenden bestand, vereinigte der Gott und führte sie gegen unsere Lande [was ja für Atlantis der Anfang vom Ende war], und zwar, wie man sagt, etwa aus folgender Veranlassung: Während vieler Menschenalter, solange nämlich die göttliche Natur in ihnen wirksam war, blieben sie den Gesetzen gehorsam und dem Göttlichen, das ihnen verwandt war, freundlich gesinnt. Denn ihr Denken war aufrichtig und in allen Dingen großzügig, indem sie gegenüber allem, was ihnen das Schicksal brachte, und auch in ihren gegenseitigen Beziehungen eine mit Klugheit verbundene Milde walten ließen; denn neben der menschlichen Tüchtigkeit achteten sie alles andere gering und machten sich wenig aus dem vorhandenen Besitz; mit Gleichmut nahmen sie die Masse ihres Goldes und der übrigen Kostbarkeiten hin, als wären sie eher eine Last; von der üppigen Fülle ließen sie sich nicht berauschen und verloren auch nicht wegen des Reichtums die Herrschaft über sich selbst und kamen so zu Fall, sondern nüchtern und mit klarem Blick sahen sie ein, dass auch dies alles nur in gegenseitiger Freundschaft, verbunden mit menschlicher Tüchtigkeit, gedeihen kann, während durch eifervolles Streben danach und durch Überschätzung es selbst dahinschwindet und damit zugleich auch die Tüchtigkeit vernichtet wird. Infolge dieser Überlegung und solange die göttliche Natur in ihnen gegenwärtig blieb, mehrten sich all die Güter, die wir vorhin aufgezählt haben. Als aber der Anteil am göttlichen Wesen dahinschwand, weil es immer wieder mit vielem Irdischen vermischt wurde und so die menschlichen Wesenszüge die Oberhand bekamen, da vermochten sie ihren vorhandenen Reichtum nicht mehr zu ertragen und entarteten. In den Augen dessen, der einen klaren Blick hat, erschienen sie schändlich, weil sie das schönste unter ihren kostbarsten Gütern verderbten; den anderen aber, die nicht zu sehen vermögen, was wahrhaft zu einem glücklichen Leben beiträgt, kamen sie jetzt erst recht herrlich und glückselig vor, in ihrem Überfluss an ungerechtem Reichtum und an Macht. Zeus aber, der Gott der Götter, der nach Gesetzen regiert und solches durchschauen kann, sah ein, dass ein tüchtiges Geschlecht in eine üble Verfassung geraten war. Er beschloss, sie zu bestrafen, damit sie zur Besinnung kämen und sich besserten. Deshalb rief er alle Götter zu ihrem ehrenvollsten Wohnsitz zusammen, der sich in der Mitte der ganzen Welt erhebt und alles überschaut, was je am Werden teilhatte. Und als sie versammelt waren, sprach er ... (Hier bricht das Fragment leider ab) (Platon, Kritias)

Platons Schriften sind im Allgemeinen sehr gut erhalten geblieben. Wenn er seine Rede hier abbricht, so mag er dies bewusst und wohlweislich getan haben, um sich nicht die Ausformulierung der Worte des höchsten Gottes anzumaßen. Aber es genügt auch so. Diese Worte kann sich ein jeder von uns in seinem tiefsten Inneren denken.

Eckehard Junge 2006 für Co-Art Publications Ltd.

Text Copyright © 2015 Eckehard Junge

   
   

 

 

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